Dienstag, 30. Dezember 2014

Pegida und der Kampf gegen die untere Mitte

»Wir nehmen jetzt alle mal einen Bogen Papier, malen eine Wolke darauf und schneiden sie aus. Dann schreiben wir unsere Wünsche darauf und heften das Wölkchen an die Wand, damit alle lesen können. Wer nicht mitmacht, ist böse und hasst seine Mitmenschen.« So ungefähr erlebe ich derzeit die deutsche Gesellschaft.

WELT-Politikredakteur Marcel Leubecher sprach kürzlich im Zusammenhang mit den Pegida-Demonstranten von »Wutsachsen mit gedanklicher Hässlichkeit«. Sein Chefredakteur Wolfram Weimer differenziert zwar, bezeichnet die Demonstranten aber als »kleinbürgerliche Spießer«. Der Innenminister von Niedersachsen, Jäger (SPD), sieht ›Nazis in Nadelstreifen‹ am Werk, sein bayerischer Amtskollege Herrmann (CSU) will die ›Pegidas‹ in die Kirche schicken, wo sie dann vom EKD-Chef als unerträglich abgetan und gleichzeitig aufgefordert werden, auch die IS-Mörder zu lieben, die Kanzlerin spricht von Schande ... Landauf, landab prügelt man verbal auf eine relativ kleine Gruppe von Menschen ein, die eine unliebsame Ansicht vertritt. Eine wohltuende und ermutigende Ausnahme ist Publizist Henryk M. Broder.

Dabei brachte eine Umfrage eines Nachrichtensenders andere Verhältnisse ans Licht: Nur 23 Prozent der Befragten haben für Pegida keinerlei Verständnis, 26 Prozent sympathisieren zum Teil mit den Ansinnen der Demonstranten, die Hälfte teilt sie komplett. Mit Unmengen von Blendgranaten und Nebelkerzen, die letztlich sogar wirken werden, weil kaum jemand mit ›Nazis‹ zu tun haben möchte, verdrängt man die eigentlichen Fragen. Diese sollten lauten: Gibt es eine Islamisierung? Ist sie bedrohlich? Wodurch äußert sie sich? Was bleibt zu tun? Darauf gibt es keine Antworten. Stattdessen werden die Fragesteller verunglimpft und in die rechte Ecke gedrängt.

Zu den Medien: Persönlich bezeichne ich sie nicht als ›Lügenpresse‹, sehe aber enorme Defizite in der Berichterstattung. Was in einem Meinungsmagazin gut und richtig ist, nämlich das Darlegen verschiedener Ansichten und die Debatte darüber, halte ich in informativen Medien für völlig falsch. Ich möchte in der Tagesschau, im SPIEGEL oder in der WELT nicht die persönlichen Meinungen der Journalisten hören oder lesen, schon gar nicht, wenn sie aus zusammengesetzten Häppchen aus Äußerungen in sozialen Netzwerken bestehen, sondern ich würde gerne überprüfbare Informationen, Zahlen und Fakten erhalten, auf deren Grundlage ich mir eine eigene Meinung bilden kann. Doch der Unterschied zwischen korrekter Information und beeinflussender Nachricht scheint immer größer zu werden, was nicht nur die zahlreichen kritischen Kommentare gegenüber den Medien belegen. Die Zuschauer und Leser bekommen mehr Wertung als Sachkundigkeit serviert.

Woran liegt das? Natürlich wird die geäußerte Meinung eines Journalisten nicht vom Staat vorgegeben. Höchstens vom Herausgeber, der auch wirtschaftliche Zahlen im Blick haben muss und mehr Unternehmer als Journalist ist. Vor allem aber gehören alle bezahlten Hauptmedienmacher einer bestimmten Menschengruppe an, die ich der Einfachheit halber als ›Establishment‹ bezeichnen möchte.

Dieses Establishment umfasst Staat, Politik, Medien, Wirtschaft, Kirchen, Gewerkschaften, Dach- und Sachverbände, Zentralräte und Zentralkomitees, weitere zivilgesellschaftliche Bereiche - mit all ihren zahlreichen Amtleuten und Funktionären, Unterfunktionären, Anhängern und ›Groupies‹. Die genannten Organisationen und Gruppen mögen sich in ihren Ansinnen und Zielen voneinander unterscheiden - wie die Deutsche Bischofskonferenz und der Schwulen- und Lesbenverband -, doch alle gemeinsam beanspruchen sie die Deutungshoheit. Der nichtorganisierte ›Normalo‹ bleibt bei der Meinungsbildung außen vor, selbst innerhalb des eigenen Milieus. Der Funktionär redet nur mit dem Funktionär auf gleicher Augenhöhe.

Da sitzen bspw. hochgelehrte Menschen in Talkshows und reden in sachlich-kühler Emotionslosigkeit über die Probleme anderer Leute, die ihnen jedoch absolut fremd sind. Wird ab und an ein Betroffener eingeladen, begegnet man diesem mit altväterlicher Gönnerhaftigkeit und versucht mit teils diffusen ›Studien‹ und ›Forschungsergebnissen‹ die geschilderten Erfahrungen der Betroffenen zu widerlegen und die eigenen Ansichten als ›alternativlos‹ darzulegen. Einzelschicksale, heißt es dann abschätzig-nachsichtig, aber dass manche Probleme in geballter Form auftreten, lässt den ›Elite-Pragmatiker‹ in keiner Weise nachdenklich werden. Zu sehr ist die eigene Erlebenswelt völlig anders, als dass man das Erleben der anderen Leute noch nachvollziehen kann. Man lebt unter ›seinesgleichen‹. Doch manches hypermoralische Weltbild würde wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen, wenn der ›Gutbürger‹ zu einem Leben in den Stadtrandghettos verdammt wäre. Denn dort befände er sich mitten zwischen den Tätern und den Opfern einer Gesellschaft, die von anderen erzeugt wurde und für deren Gestaltung es keine Möglichkeit der Mitsprache gab.

Wie auch immer, es ist eine sich weiter vertiefende Spaltung zwischen den etabliert Organisierten und deren Gefolge einerseits und den Nichtorganisierten andererseits entstanden. Man versteht sich nicht mehr und spricht nicht einmal mehr in den gleichen Worten. Die Probleme und Interessen von oberer und unterer Mittelschicht haben sich voneinander entfernt. Ohnehin sind die Anliegen der einfachen mittleren und unteren Bevölkerungsgruppen immer von untergeordneter Bedeutung. So haben es die ›Inhaber der Meinungs- und Deutungshoheit‹ nun mal festgelegt. Die Dresdner Demonstranten sind es leid, ihre Bedenken und Befindlichkeiten zu artikulieren. Ihnen hört sowieso niemand zu. Und so hat Pegida etwas von Shakespeares ›Hamlet‹: Der Rest ist Schweigen!

Ein letzter Satz zu den Kirchen: Diese können das Abendland mit schlecht besuchten Gottesdiensten, Massenaustritten und nicht enden wollender Debatten über Sexualmoral gewiss nicht retten - es sei denn, sie retten sich erst mal selbst und bieten den Menschen mehr als politisch korrektes Gerede. Eine reale geistige Heimat wäre nicht schlecht. Ausgerechnet das 19. Jahrhundert als gutes Beispiel zu bemühen, lässt mich schmunzeln. Denn damals tat sich unter den Gläubigen die bis heute bestehende Kluft zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft auf, so dass der sel. Adolph Kolping mit eigens gegründeten Vereinen die unteren Schichten in die Kirche zurückholen wollte.

Die Kirchen sind selbst zur verweltlichten Domäne von Teilen der oberen Milieus geworden, in dem sich andere Leute nicht mehr ernst genommen fühlen und ihre Befindlichkeiten nicht berücksichtigt sehen. Die Sprachlosigkeit hinsichtlich der Interessen und Anliegen ist zwischen den ›Meinungsmachern oben‹ und den ›Sprachlosen unten‹ im deutschen Christentum ebenso ausgeprägt, wie in anderen Bereichen der Gesellschaft. Der Umgang miteinander erinnert mich eher an ein Wunschsystem von ›Befehl und Gehorsam‹, in dem es zu viele Möchtegern-Befehlshaber und zu wenige Soldaten gibt.

Genug damit. Mein Fazit: Pegida wird nicht wegen der durch die Teilnehmer vertretenen Ansichten zur Gefahr für die Demokratie aufgebauscht, sondern wegen der Verweigerungshaltung der Demonstranten gegenüber dem Establishment. Niemand, keine Partei, keine Organisation, hat Einfluss auf die Beteiligten. Diese reden nicht mit der Presse, weil man ihr misstraut. Jede Verunglimpfung der Demonstranten verstärkt die Ablehnung. Sie wollen nicht reden, weil man zuvor nicht mit ihnen geredet hat.

P.S.: Während der Weihnachtsfeiertage wurde nicht nur in Deutschland ein Gottesdienst gestört, sondern in Dänemark eine Frau ohne jeden Grund von ›muslimischen Kulturbereicherern‹ mit Fahrradketten zusammengeschlagen. Überhaupt sind manche weltoffenen Menschen absolut blind, wenn es um die Welt geht. Schlimm, wenn selbst manche Intellektuelle nicht mehr über den Tellerrand hinaus sehen können.

1. Maulender Autor
2. Kasinogespräche
3. Zeitgeschehen
4. Nazis gegen rechts
Akte Bundeswehr
Akte Unsinn
Akte Weltordnung
Elsa fragt den Soldaten
Russischer Frühling
Sirkos Staniza
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren