Montag, 18. Mai 2015

Michail Tolstych - vom Lokführer zum Offizier

»Ich habe Freunde verloren in diesem Krieg. Auch meinen engen Freund Sasha, Rufname ›Partizan‹. Bereits seit Ilovaysk waren wir befreundet. Ich erinnere mich namentlich an all die Toten und besuche regelmäßig ihre Gräber.« Der Mittdreißiger im wetterfesten, zweifarbigen Kampfanzug spricht seine Worte leise und bekümmert. Übergangslos lächelt er seine Interviewer verschmitzt an und bittet sie, bloß nicht über seinen familiären Status zu berichten.

Die Erinnerung an die Gefallenen treibt ihn um. Loyalität ist eine seiner wichtigsten Eigenschaften: Loyalität gegenüber seiner Familie und den Menschen im Donbass, seinen Untergebenen und seinen Vorgesetzten Oberst Zaharchenko, dem Oberhaupt der jungen Donezker Volksrepublik, und Generalmajor Kononov, dem Verteidigungsminister.

Der junge Mann hinter dem Schreibtisch zündet sich eine Zigarette an und schaut den Interviewern aufmerksam entgegen. Er ist groß und schlank, er hat schwarzes Haar, das erste Silberfäden aufweist. Sein Konterfei könnte das Cover einer Modezeitschrift zieren. Aber er ist kein männliches Fotomodell, keine Werbefigur, wie einst von seinen Gegnern behauptet wurde, sondern der Kommandeur einer neurussischen Milizeinheit der nicht anerkannten Donezker Volksrepublik. Michail Sergeyevich Tolstych, so sein Name, ist Oberstleutnant der Donezker Streitkräfte und befehligt das Mechanisierte Bataillon Somali (Somalia).

Sein Funkcode ›Givi‹ ist der Name seines georgischen Großvaters. Er kennt ihn nur aus den Erzählungen der Großmutter. Aber Großvater Givi, weiß Tolstych, war ein tapferer Kämpfer im Großen Vaterländischen Krieg, ein Abschnittskommandeur im Kaukasus. Tolstychs Familie lebt heute vorübergehend nicht mehr im Donbass, sondern in Russland. Er hat sie dorthin gebracht, als der Krieg begann. Frau und Kinder hat er nicht. Diese ständige Behauptung, er hätte seine Familie treulos sitzen lassen, ist ein Teil der im Ostukrainekonflikt allgegenwärtigen Propaganda.

»Es ist die gleiche Propaganda, die von den Menschen im Donbass allgemein und von den Milizsoldaten speziell nur als ›Terroristen und Banditen‹ spricht«, beurteilt Tolstych. »Es gibt da viele Varianten«, sagt er und fügt mit einem Schulterzucken hinzu: »Wenn es sie glücklich macht ...«

Tolstych ist der ›Popstar‹ der nicht anerkannten Volksrepublik Donezk. Er ist einer der beliebtesten Milizionäre. Dass nicht alle Einwohner ihn mögen, ist ihm freilich bewusst. »Ich weiß nicht, weshalb manche Menschen mich negativ sehen«, erzählt er offenherzig. »Mein Bataillon stand unter anderem im Kampf beim Stadtviertel Chanzhonkov. Meine Leute haben tagelang nicht geschlafen und konnten verhindern, dass mehr als ein Dutzend Granaten in Makeyevka einschlugen. Zuerst schliefen sie friedlich, dann schauten sie uns vorwurfsvoll an.« Für Tolstych sind sie die ›schwarzen Schafe, die es in jeder Familie gibt‹. Aber diese Wenigen sind schnell vergessen, merkt er an, wenn er die positive Haltung der Vielen wahrnimmt. »Meine Jungs heulen manchmal, wenn sie die hingebungsvolle Zuwendung der Menschen zu spüren bekommen«, gesteht ›Givi‹ ein.

Den Vorwurf, die Miliz würde sich berechnend in Wohngebieten einquartieren, um gegnerischen Beschuss zu verhindern, weist Michail Tolstych energisch zurück. »Wir verschanzen uns in längst verlassenen Gebäuden ohne Glas in den Fenstern. Es ist unsere wichtigste Aufgabe, die Zivilisten zu schützen, nicht aber, sie in Gefahr zu bringen. Die Ukrops (Ukrainer) schossen in die Wohnviertel, weil sie uns töten wollten - Soldaten wie Zivilisten.«

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Foto: Michail Sergeyevich Tolstych

Michail Tolstych stammt aus der Kleinstadt Ilovaysk in der Region Donezk, um die er mit seinen Soldaten erbittert gekämpft hat. Die dortige Kesselschlacht war der Wendepunkt während der Kämpfe im Sommer 2014, die eine drohende Niederlage der Miliz bei Shachtersk in einen triumphalen Erfolg verwandelte. Der Blutzoll war hoch, erinnert sich der heutige Oberstleutnant.

Somali, der Name seines Bataillons, geht auf diese Zeit zurück. ›Givi‹ kommandierte während der Kesselschlacht nur eine kleine Gruppe verwegener Kämpfer. Dann kam das Bataillon von Arsenij Pavlov, Funkcode ›Motorola‹, zur Unterstützung herbei. Als dieser Tolstychs Einheit, über deren Köpfe die Kugeln pfiffen, sah - die Milizionäre trugen wegen der Hitze nur T-Shirts und kurze Hosen -, meinte Pavlov: »Hier ist es wie in Somalia. Und ihr lauft herum wie die Piraten.« Als Tolstychs Einheit zum selbständigen Bataillon ausgebaut wurde, wählte sie wie selbstverständlich den Namen ›Somali‹.

Überhaupt sind Pavlov und Tolstych die engsten Freunde geworden. Meist kämpfen die Bataillone der beiden Kommandeure Seite an Seite. Beide Männer sind Milizionäre der ersten Stunde. Sie fochten u.a. in Slavyansk, Shachtersk, Ilovaysk und am Donezker Flughafen. Diese vier Orte benennen eine Niederlage und eine Beinahe-Niederlage sowie zwei Siege. Besonders die drei Schlachten um den Flughafen gehörten zu den härtesten und blutigsten Momenten des bisherigen Kriegsverlaufes.

Legendär wurde ›Givi‹ durch ein Video auf der Plattform youtube. Mehr als 800.000 Mal wurde es binnen kurzer Zeit aufgerufen. Es zeigt den heutigen Oberstleutnant nur wenige Meter vom Einschlag einer Grad-Rakete entfernt in stoischer Gelassenheit. Anschließend warnte er die aus ihren Deckungen zurückkehrenden Journalisten davor, die noch heißen Splitter zu berühren.

Für viele Menschen im Donbass ist der Milizionär ein Held und Idol. Im Büro eines Donezker Schulleiters hängt ein Porträt ›Givis‹. Der Oberstleutnant schmunzelt geschmeichelt und stellt seine eigenen Idole vor: An den Wänden seines Stabsquartiers hängen die Fotos seiner Kämpfer. Es gibt auch Kämpferinnen. Beispielsweise führt eine junge Frau namens Lena eine der Kompanien des Bataillons. Die Vorbilder Tolstychs sind Heerführer, Strategen und Taktiker. Er nennt einige von ihnen: Suvorov, Kutusov, Napoleon, Chapaev.

Doch Michail Tolstych gesteht ein, auch Angst gehabt zu haben. Damals in Yampol, als seine nur mit Schützenwaffen versehene Einheit, keine 200 Mann, von einem ganzen Regiment mit Panzern und Schützenpanzern eingekreist wurde. Dennoch führte der Kommandeur seine Einheit aus dem Kessel.

Bisweilen wirkt Tolstych ein wenig selbstgefällig. Man muss dabei zweierlei berücksichtigen: Dass zur ostslawischen Kultur eine hierarchisch aufgebaute Gesellschaft gehört. Dieser entsprechend ist ein Offizier ein Offizier und ein Soldat ein Soldat. Oft erkennt der Untergebene die Zuneigung seines Vorgesetzten nur an kleinsten Gesten, die im Westen unerkannt bleiben würden. Und dass Menschen wie Michail Tolstych Grenzerfahrungen machen, die den meisten Menschen im Hier und Heute des friedlichen Westens erspart bleiben.

Doch über Anschuldigungen diverser Medien, er würde, während andere darben, teuren Cognac und dicke Zigarren konsumieren, kann der Bataillonskommandeur nur schmunzeln. In seinem Bataillon isst, trinkt und raucht man, was gerade verfügbar ist. ›Givi‹ kocht sogar selbst ab und an, am liebsten Gerichte mit Fleisch. »Manchmal mangelt es an Munition«, sagt er nicht ohne Augenzwinkern, »aber immer mangelt es an Zigaretten.« Er lacht. »Das ist ein ernstes Problem.«

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Foto: Beste Freunde - Motorola und Givi

Zu den Leidenschaften Tolstychs im Frieden gehörte der Fußball. Er ist ein Anhänger von Shachtar Donezk. Jede Niederlage des Vereins setzt ihm zu. Dann wird er launisch. Dies verband ihn einst mit dem Hauptsponsor des Vereins und dem zugleich reichsten Ukrainer: Rinan Achmetov. Über ihn sagt Tolstych: »Ich bin traurig, dass Achmetov unser Handeln nicht versteht. Ich habe ihn immer respektiert, aber dieser Respekt ging verloren, als er seine Wahl traf und unsere Gegner unterstützte.«

Seine Zukunft sieht der Oberstleutnant weiterhin als Offizier der Donezker Streitkräfte. Er möchte die jungen Menschen lehren, die Grenzen der Heimat zu verteidigen. »Sofern ich nicht getötet werde«, schränkt er ein. Die Heimat ist für ihn die Donezker Volksrepublik. Tolstych ist kein Visionär wie der Lugansker Brigadekommandeur und Donkosak Aleksey Mozgovoy. Aus seiner Sicht müssen sich zuerst die beiden kleinen Volksrepubliken etablieren, erst dann soll man über ein vereintes Novorossia verhandeln.

Tolstych sähe sich als schlechter Kommandeur, wenn seine Befehle diskutiert würden. Die Befehlstreue sieht er als Vertrauensbeweis. Im Zweifel sucht er den Rat der Kämpfer mit größerer Erfahrung. Im offenen Gespräch nimmt er Ratschläge an. Er findet: »Ich bin auch nur ein Mensch, ich kann nicht alles wissen und allein entscheiden.« Und er findet außerdem: »Die mir verliehenen Auszeichnungen (Goldener Stern von Donezk, zwei Tapferkeitskreuze, zwei Kreuze für Ilovaysk und Chanzhonkov, die Medaille für die Verteidigung von Slavyansk u.a.) gebühren meinem gesamten Bataillon.«

Den derzeitigen Waffenstillstand sieht er im Gegensatz zu anderen Feldkommandeuren als kleinen Gewinn. Als Verschnaufpause. Dennoch hegt er keinerlei Bedenken am Ausgang des Geschehens: »Wir werden gewinnen. Vorerst gilt es, keinen Flecken Heimat dem Gegner zu überlassen. Doch wir sind bereit zur Einnahme jeder einzelnen Stadt im Donbass.«

Seine Landsleute im Donbass bezeichnet Michail Tolstych als die seit jeher kühnsten und stärksten Männer der Welt. »Als wir ansehen mussten, was auf dem Maidan passierte, waren unsere Leute die einzigen hartnäckigen Widerständler«, meint der Kommandeur. »Wir haben lange auf diesen Zeitpunkt gewartet, um uns gegen die Oligarchen und die verantwortungslosen Politiker aufzulehnen. Wir einfachen Menschen arbeiteten hart und andere verdienten die Milliarden. Janukowitsch hat uns verraten. Am 1. Mai 2014 ging ich, um zu kämpfen, nach Slavyansk.«

›Givi‹ erinnert sich an zahlreiche Gespräche mit ukrainischen Kriegsgefangenen. Er spürt eine gewisse Verachtung für die ›Ukrops‹, die immer wieder behaupteten, sie selbst hätten nicht geschossen, ja, rein gar nichts getan. Dass es jeweils ›die anderen‹ gewesen sind. Als Tolstychs Bataillon den gegnerischen Kommandeur, unter dessen Befehl auf Wohngebiete in Donezk und Makeyevka gefeuert wurde, gefangen nahm, verlor Tolstych in einem Zustand der Euphorie wegen des Sieges und der Trauer um seine verlorenen Kameraden kurz die Beherrschung und schlug dem ukrainischen Oberstleutnant zweimal ins Gesicht. Ein Kriegsverbrechen, urteilten westliche Medien. Die am Flughafen aufgehängten Milizionäre mit herausgerissenen Zähnen nahmen diese Medien hingegen nicht zur Kenntnis. Das macht Michail Tolstych wütend.

»Ich würde eher den Stift einer Handgranate ziehen, als mich gefangen geben«, erklärt der Kommandeur. »Die Ukrainer hassen mich, sie würden mich ohnehin in Stücke schneiden.« In der Tat wurde ›Givi‹ gemäß ukrainischer Medien mehrfach getötet oder gefangen, es gab einen Anschlag auf ihn, den er leichtfertig ignorierte. Erst nach einem ausdrücklichen Befehl des Verteidigungsministers Kononov reist er nunmehr mit bewaffneten Begleitern.

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Foto: Givi, Motorola und der Kommandeur der Sturmeinheit Pyatnaschka (2.v.l.)

Tolstych redet lieber über sein Bataillon als über sich selbst. Er spricht von seinem Jüngsten, der als 17-Jähriger zum ihm kam und anfangs abgewiesen wurde. Einem Jungen, der nun 18 ist und in das Bataillon aufgenommen wurde. Von der vordersten Front hält ›Givi‹ ihn trotzdem noch fern. Und er redet vom Ältesten, einem 64-Jährigen. Dieser wechselte von ›Motorolas‹ Einheit Sparta zu ›Givis‹ Somali, weil er nicht mehr gut zu Fuß war, dafür aber ein begnadeter Panzermechaniker.

Besonders die enge persönliche Freundschaft Tolstychs zu Arsenij Pavlov soll nicht unerwähnt bleiben. Sie kämpften Schulter an Schulter in Slavyansk, in Ilovaysk, in Semyonovka und gemeinsam mit der kleinen, elitären Sturmeinheit Pyatnaschka am Donezker Flughafen. »Wir verstehen uns blind«, erzählt Michail Tolstych. »Uns unterscheiden nur die Waffengattungen. Ich führe ein Bataillon mit Panzern, Infanterie, Artillerie und Raketenwerfern, das Bataillon Sparta des einstigen russischen Marineinfanteristen ›Motorola‹ ist die beste Aufklärungstruppe der Donezker Armee. Wir respektieren uns, unsere Kämpfer respektieren sich.«

Lässig im Drehsessel zurückgelehnt - ›Givi‹ spielt seine ihm zugeschriebene Rolle des ›coolen Superstars‹ nahezu perfekt - kommt er gegenüber seinen Interviewern erneut auf Zigaretten zu sprechen. »Was sollten wir ohne sie tun?«, fragt er scherzhaft. Dann wird er ernst. »Die Hauptsache ist Munition, ist Kleidung. Im Vordergrund stehen Renten und Sozialleistungen für die Zivilbevölkerung. Doch nun wird es auch für uns Kämpfer besser. Wir bekommen ein kleines Gehalt, aber wir kämpfen nicht für Geld.«

Anders als andere Feldkommandeure setzt Tolstych auf eine rein einheimische Mannschaft im Bataillon. »Für das Heimatland sollten jene Menschen kämpfen, die ihre Eltern, ihre Kinder und die Vorfahren in ihren Gräbern schützen. Die wissen, wofür sie kämpfen.«

Die Interviewer haben ihre Fragen gestellt. Ihnen gegenüber sitzt hinter dem Schreibtisch ein junger Mann mit ukrainischen und georgischen Wurzeln, mit russischer Kultur und Sozialisation. Seine Talente, über die er zweifelsohne verfügt, wären beinahe verloren gegangen in einem System der radikalkapitalistischen Oligarchie und des latenten westukrainischen Ultranationalismus. Aus dem jungen Mann, der in der Seilerei von Charzysk eine Diesellokomotive fuhr, ist ein verantwortungsvoller Militärkommandeur geworden. Ein Aufstieg, der längst nicht alltäglich ist.

Geächtet von westlichen und westukrainischen Eliten gehört Michail Sergeyevich Tolstych selbst einer Elite an, die in westlichen Ländern keine Rolle mehr spielt: der auf Vorbildwirkung und Tapferkeit beruhenden militärischen Auslese. Der Kommandeur führt derzeit viele Kämpfe. Er streitet für Autonomie, für die Menschen des Donbass, für seine Heimat: die kleine, nicht anerkannte Volksrepublik Donezk. Er verehrt seinen Oberkommandierenden Aleksandr Zaharchenko, der ihn in schwierigsten Zeiten nie allein gelassen hat.

Wer ›Givi‹ beurteilen möchte, darf keinesfalls die unglückliche Situation ignorieren, in der er sich befindet - gemeinsam mit den Hunderttausenden im Donbass, für die er täglich sein Leben riskiert. Fest steht indes auf jeden Fall: Er ist ein kühner und furchtloser Mann.

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