Samstag, 29. November 2014

Eine unsichtbare Katastrophe

Die Feldkommandeure der Miliz halten in ihren Verbänden strenge Disziplin. Für eine Miliz ist dies eher ungewöhnlich. Aber es geht vor allem um einen eisernen Grundsatz, nach dem der Schutz der Zivilisten und deren wenigen Habseligkeiten das oberste Gebot des Handelns ist. Wer als Milizionär einen Zivilisten ausraubt oder bestiehlt, wird archaisch bestraft: zehn Hiebe mit der Nagaika und Ausschluss aus der Miliz, womit der Verlust der geringen Privilegien verbunden ist, wie beispielsweise kostenlose Heizmaterialien für die Familienangehörigen (ähnliches gibt es auch auf der Gegenseite). Diese Verfahrensweise zeigt neben den traditionell harschen Sitten im russischen Militär, die ich nicht weiter bewerten möchte, allerdings auch die Zuwendung der Bewaffneten zur Zivilbevölkerung. So gaben in der Stadt Stachanow, die vor dem Krieg etwa 83.000 Einwohner zählte, die Milizionäre der dortigen kleinen Garnison all ihre Lebensmittelrationen an die Zivilbevölkerung weiter. Es wurde einfach eine Feldküche auf dem Marktplatz aufgestellt und das zubereitete Essen an die Einwohner verteilt. Ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn man die katastrophale humanitäre Lage im Donbass bedenkt.

Anders erging es den Menschen in der Siedlung Novosverdlovsk nahe Lugansk, die einige Zeit lang vom ukrainischen Bataillon Aydar besetzt war und nun von den Separatisten kontrolliert wird. Der Ort ist zerstört und menschenleer. Die Mitglieder des Aydar-Bataillons sind keine Faschisten. Es sind Lehrer, Anwälte, Ärzte - Angehörige des Bildungsbürgertums, die sich als Patrioten bezeichnen. Das Bataillon untersteht nicht der Armee oder der Nationalgarde, sondern dem Innenministerium. Es übernimmt Sicherungsaufgaben im Hinterland und trägt rote Kennungen. In Novosverdlovsk haben die Aydar-Freiwilligen die russisch-orthodoxe Kirche schwer beschädigt, den Friedhof verwüstet, die Häuser und Wohnungen geplündert und das Lenindenkmal zerstört. Wie eine Horde entlaufener Schwerkrimineller traten die Aydar-Leute auf die Überreste des Denkmals ein. Denn alles Russische wird seit einigen Monaten mit wilder Wut gehasst - die Kultur, die Sprache, die Menschen.

Vor einem Jahr lebten in den Oblasts Donezk und Lugansk etwa 6,5 Millionen Menschen, in der Masse Russen und russischsprachige Ukrainer. Lugansk ist mit einem Anteil von rund 90 Prozent ethnischer Russen die russischste Stadt in der gesamten Ukraine. Mehr als zwei Millionen Menschen sind aus dem Konfliktgebiet geflohen, die Mehrheit der verbliebenen Einwohner der beiden Oblasts leben in den Gebieten der nicht anerkannten Volkrepubliken Donezk und Lugansk. Die meisten fühlen sich unter dem Schutz der pro-russischen Milizen besser aufgehoben als unter der Kontrolle der ukrainischen Sicherheitskräfte, die von vielen als Besatzer empfunden werden.

Dies darf nicht verwundern. Durch ukrainischen Beschuss wurden 4.600 Wohnhäuser zerstört oder beschädigt, dazu vierzig Krankenhäuser, fast 300 Schulen und über 400 Einrichtungen der Versorgung mit Energie, Wasser und Wärme. Die humanitäre Situation ist katastrophal. Kaum jemand nimmt dies zur Kenntnis. Während im deutschen Fernsehen nahezu täglich über Kriegs- und Armutsflüchtlinge berichtet und eine Willkommenskultur eingefordert wird, hält man sich hinsichtlich der Zustände im Donbass eher bedeckt. Die klare Zuweisung der Verantwortung an Russland, die russophob-propagandistische Berichterstattung und der politische Rechtspurismus verdrängen jedwede Offenlegung der tragischen Lage der Donbassbewohner. Diese erwarten auch keinerlei Hilfe vom Westen oder aus Kiew, sondern einzig von Russland. Die Fronten sind klar, die Rollen verteilt.

Als vor Monaten der erste Hilfskonvoi der Russischen Föderation nach ergebnislosen Verhandlungen mit der Kiewer Regierung endlich eigenmächtig die Grenze überquerte, war am Grenzübergang eine Webcam [1] geschaltet. Man konnte per Fernübertragung in Bild und Ton miterleben, wie eine sichtlich ratlose Mitarbeiterin des Internationalen Roten Kreuzes mit einem Grenzoffizier diskutierte, man konnte Journalisten und Schaulustige sowie die wartenden rund 100 LKW sehen. Dann öffnete sich plötzlich der Schlagbaum, die Rot-Kreuz-Mitarbeiterin wirkte noch ratloser, die Zivilisten applaudierten und der Konvoi setzte sich in Bewegung. Sofort wurden die zum Konvoi gehörenden Tanklaster beanstandet, weil sie angeblich Treibstoff für die Separatisten beförderten. Hätte man die Bilder der Live-Kamera angesehen, hätte man auch die Notstromaggregate zur Kenntnis genommen, für deren Betrieb die Kraftstoffe bestimmt waren. Panzer konnten sich nicht auf den 20-Tonnern befinden, denn ein russischer Kampfpanzer wiegt etwa 45 Tonnen. Und unter den Planen versteckte Soldaten, von denen die Rede war, wären innerhalb der langen Wartezeit erstickt, verdurstet oder verhungert.

Mittlerweile gab es acht dieser staatlichen Hilfslieferungen aus Russland, ein jeder bestehend aus 100 Fahrzeugen mit 2.000 Tonnen Fracht: Lebensmittel, Medikamente, Winterkleidung, Baumaterialien, Schulbücher. Neben den Lieferungen des russischen Staates passieren täglich Dutzende Fahrzeuge aller Größen die Grenze und bringen zivilgesellschaftlich organisierte und privat gespendete Hilfsgüter in den Donbass. Die Krim hat einen eigenen Versorgungskonvoi gesendet. Die Solidarität der Russen ist gewaltig. Und jedes einzelne Kilogramm Hilfe wird dringend benötigt. Es ist überlebensnotwendig. Nahrungs- und Arzneivorräte sind aufgebraucht.

Hilfe seitens der Ukraine gibt es für die Menschen im Donbass nicht. Unmittelbar nach der Machtübernahme der pro-westlichen Kräfte in Kiew wurden den Regionen sämtliche Gelder abgenommen und zentral verwaltet. Die meisten Mittel wurden und werden für den Krieg im Donbass eingesetzt. Ab dem 1. Dezember 2014 wird die ukrainische Regierung die Zahlung von Renten, Pensionen, Gehältern und Sozialleistungen für die Bewohner in den Separatistengebieten komplett einstellen. Sie werden von allen Leistungen abgekoppelt. Seit einigen Tagen liefert das Gesundheitsministerium der Ukraine keine Medikamente mehr in den Donbass. Gleichzeitig zieht man dort immer mehr Truppen zusammen. Faktisch hat die Kiewer Regierung die Menschen im Donbass aufgegeben. Alle staatlichen Verpflichtungen dem Donbass gegenüber sind Geschichte, die Einwohner sind nicht mehr Teil der ukrainischen Bevölkerung. Man will die Menschen nicht mehr haben - aber deren Land will man zurückerobern.

Was soll noch werden? Wie stellen sich die pro-westlichen Machthaber und deren westlichen Verbündeten die künftige Staats- und Gesellschaftsordnung der Ukraine vor? Soll der pro-russische Bevölkerungsanteil bis in alle Ewigkeit mit Waffengewalt unterdrückt werden und in einem riesigen Freiluftgefängnis jahrzehntelang unter Kriegsrecht stehen? Damit man in den Bergbaugebieten lukratives Fracking betreiben kann?

Nein, es wird kein Miteinander mehr geben. Die faktische Teilung kann innerhalb der nächsten drei oder vier Generationen nicht überwunden werden. Die meisten Menschen im Donbass denken nicht daran sich zu beugen und sind bereit, allen Widerständen zu trotzen. Sie sind mehrheitlich Bergleute, Fabrikarbeiter, Bauern, Kosaken. Schicksalsergeben und leidensfähig. Sie sind russisch. Und sie haben einen festen Willen und ihre eigenen Vorstellungen von Freiheit und Gerechtigkeit - auch wenn es dem »Westen« nicht passt.


[1] Eine Randepisode: Auch in Donezk waren eine Zeitlang mehrere Webcams geschaltet. Man sah menschenleere Straßen, beschädigte Häuser und im Hintergrund dicke Rauchschwaden. Im zugehörigen Live-Chat unterhielten sich User über die übertragenen Bilder. Meist auf Englisch. »Wo bleibt die Action?« war zu lesen, oder »Schmeißt endlich mal ein paar Bomben.« Diese Sprüche kamen von »Verteidigern von Recht und Freiheit, von Demokratie und Menschenwürde«? Mitnichten. Blutrünstiges Gesindel gibt es auf allen Seiten. Doch nach allem Gesehenen und Recherchierten sind es weniger die Milizen und Zivilisten im Donbass, die sich »Blut, Action und Bomben« herbeisehnen. Es sind eher die unterbelichteten Trotz-allem-Verfechter abstrakter Begriffe, denen in ihrem politisch-ideologischen Wahn in Herz und Hirn längst ein wichtiger Baustein für eine gerechte Welt abhanden gekommen ist: Menschlichkeit!

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