Freitag, 3. Oktober 2014

Die Sicht der Anderen (2)

Säße ich auf dem Marktplatz oder in einer Kneipe, würde sich schnell jemand hinzugesellen, der irgendetwas zu beanstanden hat. Nicht an mir. Ich bin nur das wohlfeile Opfer, das eben zufällig anwesend ist. Schnell würden mir die Ohren klingeln wegen des Geredes und Gemotzes und Kritisieren über Merkel und Gabriel, über die EU oder die katholische Kirche, das Fernsehen und die Tageszeitung, die Schlaglöcher, die Preise und die Steuern, eine Fußballniederlage, das Wetter u.v.m.

Dennoch, trotz echter Kritik und hysterischen Gejammers, gibt es in Deutschland keine Umbruchstimmung und keine Gedanken an Revolutionen oder Systemwechsel. Kaum jemand will die Merkel-Regierung stürzen, die Politiker ins Exil schicken oder eine andere Gesellschaftsordnung etablieren. Der Mensch muss sich beschweren und allzeit etwas beanstanden - das liegt in seiner Natur.

Sitzt allerdings ein Qualitätsmedienmensch auf einem russischen Marktplatz oder in einer Moskauer Kneipe wird das Meckern gern zum Indikator für eine angebliche politische Wechselstimmung aufgewertet. Da wird selbst der Fluch auf das Regenwetter zum Widerstand gegen den Kreml oder den russischen Präsidenten. Dass die Russen ebenso gerne nörgeln wie die Deutschen, Franzosen oder Polen, kommt da wohl nicht in den Sinn. Dieses Volk am östlichen Rand Europas reitet zwar auf Bären und verspeist Steppenwölfe, sagt man sich, aber ansonsten wollen die doch auch so etwas haben wie wir. Vor allem eine Demokratie nach deutschem Vorbild. Einige wollen dies wirklich.

Die Mehrheit eher nicht. Trotz mancher Unregelmäßigkeit bei Wahlen zur russischen Staatsduma oder anderer Parlamente ist die Richtung klar: Alle in der Duma vertretenen Parteien stehen für das Prinzip des Gemeinsinns vor dem Individualismus, für die Interessen Russlands und der Russen über den Befindlichkeiten des Rests der Welt. Letzteres trifft auch auf andere Nationen zu, insbesondere auf die USA.

Werfen wir einen Blick auf die Zusammensetzung der Duma seit 2013. Die Regierungspartei Einiges Russland, die das Nichtmitglied Wladimir Putin unterstützt, verfügt über 238 der 450 Sitze in der Duma, die Kommunistische Partei der Russischen Föderation über 92, die linkssoziale Partei Gerechtes Russland über 64 und die nationalistische Liberaldemokratische Partei Russlands über 56 Sitze. Die po-westliche Opposition ist nicht vertreten.

Selbst im Fall des Verlustes der Mehrheit könnte Einiges Russland mit jeder der drei anderen im Parlament vertretenen Parteien notfalls koalieren. Denn alle vier Parlamentsparteien vereint der Gedanke an ein starkes Russland. Für jede der vier Parteien spielt der Nationalstaat eine wichtige Rolle, wobei die Unterscheidung zwischen dem linken und dem rechten Patriotismus als Ideal in den Hintergrund treten würde.

Wenig Rückhalt in der Bevölkerung haben indes pro-westliche Bewegungen. Daran ändert auch die deutsche oder europäische, häufig anderslautende Medienberichterstattung nichts. Manche westlichen Werte widersprechen nun mal nicht selten den östlichen Werten, Idealen und Traditionen, der europäische Zentralismus ist mit der Liebe zum Vaterland, der ›heiligen Mutter Russland‹, und der Sehnsucht nach Stärke und Einfluss für die eigene Nation kaum vereinbar.

Auch die russischen Oligarchen, die in nur zwei Jahrzehnten zu immensem Reichtum gelangt sind, erfreuen sich in Russland keiner besonderen Beliebtheit. Sie gelten als korrupte Bereicherer, antirussische Landesverräter, Handlanger Amerikas und Komplizen der ›Diebe im Gesetz‹ (sog. russ. Mafia) - und tatsächlich haben nicht wenige dieser Neureichen sich das eine oder andere aufschlussreiche Tattoo entfernen lassen. Dass der Westen ausgerechnet auf die Oligarchen setzt, schrammt unter Betrachtung der vorherrschenden russischen Befindlichkeiten hart an der Dummheitsgrenze vorbei.

Abgesehen von ›Werten‹ wie freier Inzest und Homo-Ehe - so sieht es zumindest die breite Masse der Menschen zwischen Sotschi und Wladiwostok -, ist der russischen Bevölkerung noch allzu gut in Erinnerung, dass einer ihrer Präsidenten vor Putin im Vollsuff die Förder- und Vertriebslizenzen für sämtliche flüssigen und gasförmigen Rohstoffe des Landes verschleudert und sein eigenes Volk damit noch mehr verarmt hat. So blieb Boris Jelzin in einem lichten Moment nur die Weitergabe der Macht übrig, vom schwachen Trunksüchtigen an einen starken, selbstbeherrschten und organisiert agierenden Nachfolger: Wladimir Putin.

Man muss Putin nicht mögen. Man muss ihn schon gar nicht als ›lupenreinen Demokraten‹ bezeichnen. Putins Unterstützerpartei ist - und das wissen natürlich die Wähler - national- bzw. rechtskonservativ. In seiner Beliebtheit schwelgt Putin derzeit bei 85 Prozent, nicht zuletzt, weil er in der Krimkrise aus Sicht der meisten Russen klare Verhältnisse geschaffen hat - und damit demonstriert hat, dass er zum Wohle der russischen Nation agiert.

Für andere Russen stellen Putin und Einiges Russland in etwa das Gleiche dar wie hierzulande die CDU/CSU oder die SPD - das kleinere Übel. All das muss man beachten, wenn man sich über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Russland äußern möchte. Alles andere ist reines Wunschdenken.

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