Dienstag, 31. Dezember 2013

Brennendes Land

Als im Frühling 2011 die Demonstrationen gegen den ägyptischen Machthaber Mubarak begannen, schöpfte die Welt Hoffnung auf eine Veränderung der gesamten Region. Der Wunsch der Menschen in aller Welt nach Demokratie und Freiheit fand neue Nahrung. Der ›Arabische Frühling‹ wurde bejubelt und beklatscht. Ägypten kam dabei eine bedeutende Rolle zu. Denn gerade Ägypten gilt seit jeher als Leitmacht in Nordafrika und als Vorbild für die Nachbarstaaten. Seite an Seite begehrten Säkulare und Religiöse, Liberale, Konservative und Soziale, Christen und Muslime gegen einen Despoten auf, der das Land in das Eigentum eines Herrscherklans verwandelt hatte.

Die Revolution der für ein gemeinsames Ziel geeinten Massen war, nicht zuletzt durch die Neutralität des mächtigen Militärs, erfolgreich und die Welt atmete erleichtert auf. Zu früh, wie wir heute wissen. Einen Monat und einen Tag genau ist es her, als ich in einem anderen Beitrag vor allzu viel Euphorie gewarnt hatte. Leider zurecht.

Ägypten nahm zunächst den Weg in die Richtung einer Islamischen Republik. Nach nur einem Jahr sah das Militär sich zum Eingreifen veranlasst und setzte den gewählten Staatspräsidenten kurzerhand ab. Daraufhin kam es zu Protesten der Mursi-Anhänger, zu Gewalt und Blutvergießen und zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Am Mittwoch räumten das Militär und die Polizei gewaltsam zwei große Protestlager der Muslimbruderschaft. Infolge dessen kamen 638 Menschen ums Leben, weitere rund 4.200 wurden verletzt. Nun herrscht Ausnahmezustand in Ägypten, der Notstand wurde ausgerufen, eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Wie es im Land der Pyramiden und Pharaonen weitergehen wird, weiß im Augenblick allein Gott.

Die Machtverhältnisse und Gruppierungen

Die gegenwärtigen politischen Mehrheitsverhältnisse in Ägypten können bestenfalls geschätzt werden. Verlässliche Aussagen, welche Bewegung wie viele Anhänger verzeichnen kann, sind nicht vorhanden. Zur gegen Mursi aktiven Opposition gehören mindestens 25 Gruppierungen, ideologisch völlig unkompatibel, von Liberalen und Bürgerlichen über Sozialisten und Kommunisten sowie Gewerkschaften bis hin zu anderen radikal-islamistischen Bewegungen. Daneben gibt es im Gesamtspektrum des politischen Ägyptens nach wie vor die Muslimbrüder und die Salafisten. Und natürlich auch die Anhänger des gestürzten Despoten Mubarak.

Indes haben jene Kräfte, die der Westen als Verbündete betrachtet, namentlich die säkularen Eliten des Landes, ein gewaltiges Problem. Sie sind bei zahlreichen Mitbürgern eher unbeliebt. Schuld daran ist deren Neigung zum westlichen Lebensstil, aber auch die Verachtung der einfachen Menschen, also der Mehrheit der Ägypter, durch eben diese Eliten. Ob sie mit dieser Haltung als einigender Faktor dienen können, ist mehr als fraglich.

Die eigentliche Regierungsgewalt ist derzeit ohnehin die Armeeführung. Das darf nicht erstaunen; die Rolle des Militärs ist in Ägypten bedeutsamer als anderswo. Die Streitkräfte des Landes sind Staat im Staate, sie legen ihren Etat selbst fest, betreiben Unternehmen, Hotels, Autobahnen. Die US-Administration unterstützt das ägyptische Militär darüber hinaus mit jährlichen finanziellen Zuwendungen. Man kann die Rolle der Streitkräfte unterschiedlich bewerten. Nach westlichen Maßstäben wären sie nicht gerade sehr vertrauenswürdig. Dennoch, die Armee ist derzeit die einzige intakte Einrichtung im Land. Ohne das Militär wäre keine Regierung handlungsfähig und die verhasste Polizei, die man noch immer als früheres Machtinstrument Mubaraks sieht, wäre zur Aufrechterhaltung einer wie auch immer gearteten Ordnung alleine nicht imstande.

Es kommt auch nicht darauf an, wie wir die ägyptische Armee sehen, sondern wie die Einschätzung der Ägypter ist. Diese sehen in ihren Streitkräften eine gegenüber dem Volk integere Institution, die partei- und gruppenübergreifend Respekt und Vertrauen genießt. Als Einrichtung, die das Volk und die Revolution vor neuen Diktaturen und Gewaltherrschern schützt. Besonders vor den Muslimbrüdern und deren Anhängerschaft.

Die Muslimbruderschaft

Die anfängliche Beliebtheit der Muslimbruderschaft bei den Ägyptern stützte sich auf zwei wesentliche Grundlagen. Die Muslimbrüder widersetzten sich dem Regime Mubaraks, wurden verfolgt, inhaftiert und gefoltert. Sie galten für ihre Mitmenschen als Helden des Widerstandes. Und sie waren, im Gegensatz zum Regime, sehr sozial engagiert und unterstützten tatkräftig die Armen, wodurch sie stetig zunehmenden Einfluss gewannen. Sie kümmerten sich um jene, um die sich sonst niemand kümmerte. Ähnlich agiert die palästinensische Hamas, die einen politischen, einen sozialen und einen militärischen Apparat unterhält, ähnlich agiert die libanesische, schiitische Hisbollah-Miliz.

Doch dies ist nur die Schauseite der Medaille. Hinter der sozialen Fassade der Muslimbruderschaft verbirgt sich eine Extremform des politischen Islam, dessen hauptsächliches Ziel die Errichtung eines weltweiten Kalifats ist. Das zum Kalifat natürlich auch die Scharia gehört, muss nicht eigens erwähnt werden.

Diese Bruderschaft ist kein harmloser Dorfkulturverein und keine geistig minderbemittelte Truppe von zwangsrekrutierten Analphabeten, wie so gern behauptet wird. Sie ist radikal-islamisch, global aktiv und ihr Netzwerk verfügt über Ableger in mehr als siebzig Ländern, darunter in Saudi-Arabien, im Libanon, in Syrien, den Palästinensergebieten, Jordanien, im Sudan, in Algerien, Tunesien und Libyen - sowie bspw. Frankreich und Deutschland.

Die Muslimbruderschaft in Deutschland umfasst rund 1.800 Mitglieder, betreibt mehrere wirtschaftliche Unternehmungen und unterhält neben der Zentrale in München weitere Zentren in Nürnberg, Stuttgart, Frankfurt am Main, Köln, Marburg, Braunschweig und Münster.

Der Multikultikontinent Europa ist prädestiniert für Extremismen aller Art und während hierzulande über Islamphobie, Lebensmittelampeln, Zigeunersauce (kennt sogar mein Rechtschreibprogramm) und Wichtigkeiten unterhalb der Gürtellinie debattiert wird, wächst im Verborgenen heran, was man anderswo mit Panzern und Kalaschnikows im Zaum halten muss - was viele Menschen - einschließlich namhafter deutscher und europäischer Politiker und Experten - für übertrieben halten.

Vorherrschend ist die angesichts des Blutvergießens schon banal-zynische Aussage, Ägypten würde eben viel Zeit benötigen, bis man dort Demokratie gelernt hat. An dieser Stelle muss ich dann doch polemisch werden: Es sind nicht die Politiker und Experten Deutschlands und Europas, nicht die bestens bewachten Eliten Ägyptens, deren Blut für Demokratie und Freiheit fließen muss, sondern das der einfachen Menschen des Landes. So das Blut der Kopten und anderer Christen beispielsweise.

Die Lage der Christen

Die Kopten stellen bis zu zehn Prozent der ägyptischen Bevölkerung und bilden damit das Gros der christlichen Einwohner. Die koptische Kirche ist weltweit die älteste christliche Kirche und geht auf den Apostel Markus zurück. In keiner Weise mit dem Mubarak-Regime verflochten, teilten sie die Lasten der Revolution und demonstrierten Seite an Seite mit den Muslimen und den Säkularen. Doch nach dem Sturz des Tyrannen wurden sie zum Feindbild der Islamisten.

»Wenn Mursi auch nur ein Haar gekrümmt wird, dann reißen wir den Christen die Augen aus«, verkündete der radikale TV- Prediger Abdullah Badr in einem Talk des ägyptischen Senders ›Al Hafez‹. Und der Generalsekretär der Partei für Freiheit und Entwicklung, Mohammed Abu Samra, äußerte in einem Interview des Nachrichtensenders ›Al-Arabija‹: »Wenn die Christen sich gegen die Legitimität stellen, dann werden wir äußerste Gewalt anwenden. Wir sind keine Muslimbrüder und auch keine Salafisten, wir sind Dschihadisten.«

Übergriffe auf Christen und Gotteshäuser geschahen häufig im Ägypten nach Mubarak. Doch mit der Räumung der Protestlager der Muslimbrüder eskalierte die Situation vollends. Plündernder, randalierender und sogar mordender Mob zerstörte an nur einem Tag 26 Kirchen, verwüstete oder beschädigte weitere 13 Gotteshäuser, griffen zudem sechs Schulen, vier Gemeindezentren sowie Geschäfte, Wohnhäuser, Autos und Ausflugsboote an. Vier Christen wurden vom Mob gesteinigt. Einfach so. Aus Hass. Vermutlich wird es später noch mehr schreckliche Meldungen geben, denn momentan regiert das Chaos.

Angesicht der politischen Töne aus Deutschland und Europa fühlen sich die ägyptischen Christen von der westlichen Welt ignoriert und verlassen. Ihr grausames Schicksal wird schlicht übersehen in den Debatten darüber, was demokratisch ist und was nicht. Und während die Welt sich mal wieder nicht einig wird, sterben in Ägypten unschuldige Menschen durch die Hand rasender Mörderbanden.

Die Zukunft des Landes

Eine Zukunft in Frieden, Demokratie und Freiheit setzt voraus, dass alle Kräfte guten Willens zusammenkommen und gemeinsame, gerechte Lösungen finden. Dazu bedarf es jedoch zuerst der Ruhe und Ordnung. Eine Übergangsregierung, die Gefahr läuft, das gesamte Land an Anarchie und Aufruhr zu verlieren, kann nur in einem sehr begrenzten Rahmen agieren und ist auf Unterstützung angewiesen, die über das eigene Militär hinausgeht. Da mutet es seltsam an, dass man in Europa Herrn Mursi nachtrauert und die von den Islamisten attackierte Regierung einseitig kritisiert.

Am heutigen Freitag brennen doch erneut die Barrikaden, werden wiederum Menschen angegriffen und Gebäude zerstört. Wieder rasen Messer und Mord, auch heute schreit der Mob nach Blut. Sieht man das nicht? Will man es nicht sehen?

Im Grunde genommen hat Ägypten nur eine einzige Chance auf Ruhe und Ordnung fernab des Bürgerkrieges. Man muss den Muslimbrüdern und ihren Anhängern unmissverständlich klarmachen, dass es für eine neue Tyrannei keinen Platz gibt und dass sie, sofern sie mitbestimmen wollen, der Gewalt entsagen und am Verhandlungstisch platz nehmen müssen.

Doch ich fürchte, es wird anders kommen. Zu unversöhnlich sind die Radikalen, zu groß ist ihr Hass. Es besteht die große Gefahr, dass der ›harte Kern‹ der Muslimbruderschaft in den Untergrund geht und das gesamte Land mit Terror überzieht. Und wir reden über den Umgang der ägyptischen Übergangsregierung mit Mursi. Vermutlich hätten die Ägypter gern unsere ›Probleme‹.

Gott schütze Ägypten und segne seine Kinder!

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