Dienstag, 22. September 2015

Die Situation in Syrien

Syrien ist derzeit in aller Munde. Doch es ist weniger die Situation in Syrien selbst, über die berichtet wird, sondern man redet mehr oder weniger sachlich über den Umgang mit den aktuell nach Europa strömenden Flüchtlingszügen. Über den Konflikt selbst liest und hört man hingegen wenig, und falls doch etwas verlautbart wird, klingt es nach einseitiger ideologischer Betrachtung. Da ist der finstere Tyrann Assad, der sogenannte Fassbomben auf die eigene Bevölkerung wirft, da ist der Terrorstaat IS, der sich immer tiefer ins syrische Landesinnere frisst, und da sind die guten Rebellen, die sich tapfer gegen die Übergriffe der Bösen zur Wehr setzen. Doch das ist, wie gesagt, sehr einseitig und von westlichen geopolitischen Wahrnehmungen geprägt. Betrachten wir die einzelnen Akteuren und deren Ziele näher:

Die Kurden
Nach wie vor kämpfen die syrischen Kurden für einen eigenen Staat, zumindest für ein autonomes Gebiet im Norden Syriens. Wie die türkische PKK sind auch die syrischen Kurden eher sozialistisch orientiert, im Gegensatz zu den irakischen Kurden, die eher als konservativ und traditionell gelten. Dennoch gibt es im Kampf um die Souveränität eine wechselseitige Unterstützung, die sich besonders im Kampf um die nordsyrische Grenzstadt Kobani gezeigt hat. Auch die Freie Syrische Armee unterstützte zeitweilig die Kurdenmiliz PYG. Denn fallen die Kurdengebiete, fällt auch der halbwegs sichere Rückzugsraum der säkularen syrischen Rebellen im Nordabschnitt.
Die Kurdengebiete werden besonders vom Terrorkalifat IS bedroht. Dahinter steckt eiskaltes Kalkül, denn die syrischen Kurden stehen mit dem Rücken zur Wand und haben kaum Verbündete. Sie sind eingekeilt zwischen der ihnen feindlich gesinnten Türkei und dem offen feindseligen IS-Kalifat.
Die Kurden haben keine Ambitionen, die über die Erlangung der Souveränität ihrer Siedlungsgebiete hinausgehen. Sie bieten Flüchtlingen aus anderen syrischen Regionen Zuflucht, insbesondere auch den christlichen, jesidischen, drusischen und anderen Minderheiten. Da sie nicht pro-westlich sind, erfahren die syrischen Kurden kaum Unterstützung aus dem Westen, im Gegensatz zu den nordirakischen Peschmerga.

Die Freie Syrische Armee
Die Freie Syrische Armee (FSA) ist zwar grundsätzlich säkular, aber durchdrungen von Islamisten und Dschihadisten. Bei der Vertreibung der christlichen Minderheit in der Stadt Homs tat sich bspw. besonders die FSA-Brigade «Faruq» hervor. Es gibt zwar einen Oberkommandierenden und einen Generalstab der FSA, aber die eigentliche Macht und Verantwortung liegt bei den Kommandeuren vor Ort.
Betrachtet man die aktuelle Lagekarte (siehe weiter unten), stellt man fest, dass nur wenige Gebiete in Syrien von der FSA allein kontrolliert werden (wiesengrüne Zonen). In den meisten Regionen wird die Kontrolle mit Hilfe islamistischer und dschihadistischer Milizen ausgeübt, wobei letztere oft in der Mehrheit sind (olivgrüne Zonen). Selbst der Al-Qaida-Ableger Al-Nusra-Front ist ein willkommener Verbündeter, obwohl diese Miliz dem IS an Grausamkeit nicht nachsteht. Jede an die FSA gelieferte Waffe kann auch in die Hände islamistischer Extremisten geraten.
Die USA setzen in ihrer Außenpolitik dennoch allein auf die FSA. Daher wird sie von anderen westlichen Staaten unterstützt.

Die übrigen «Rebellen»
Dies sind in der Regel moderat islamistische und radikal-islamische Milizen unterschiedlicher Ausrichtung. Besonders die Al-Nusra-Front kann als extrem radikal und gewalttätig betrachtet werden. Sie ist Bestandteil der globalen Terrororganisation Al-Qaida, auf die sie einen Eid abgelegt hat. Ihr Ziel ist die Errichtung eines Emirats in Syrien, ihre Methoden sind Terror, Mord, Folter und Vertreibung. Vor einigen Tagen erschossen sie mehr als 50 syrische Kriegsgefangene, daneben rieben sie ein 60-köpfiges Kommando auf, das von den USA für den Kampf gegen den IS ausgebildet und ausgerüstet worden war, die Kämpfer des Kalifats aber nie zu Gesicht bekam.
Die Islamisten werden besonders von Saudi-Arabien und den Golfstaaten unterstützt.

Die Regierungstreuen
Für Assad kämpfen besonders die Minderheiten der Aleviten und Schiiten, vereinzelt auch andere Angehörige von religiösen und ethnischen Minderheiten. Sie kämpfen allerdings nicht nur für den Assad-Klan, sondern auch um das eigene Überleben. An ihrer Seite kämpft die libanesische Schiitenmiliz der Hisbollah.
Die Regierungstruppen sind durch den Kampf an drei Fronten - im Norden und Süden gegen die Rebellen, im Osten gegen den IS - ausgeblutet. Dennoch sind sie, einzeln betrachtet, die stärkste Konfliktpartei. Nach wie vor stützt sich Assad auf nicht unerhebliche Bevölkerungsteile, die Syrien nicht in einen islamischen Gottesstaat umgewandelt sehen wollen.
Gegenwärtig wieder besonders hart umkämpft ist das frühere Handels- und Wirtschaftszentrum Aleppo. Hier wird jeder Stadtteil von einer anderen Macht gehalten. Man muss beachten: Zöge die syrische Armee aus der Metropole ab, würde umgehend der IS die Gunst der Stunde nutzen und der Stadt den Todesstoß versetzen.
Die Regierungstruppen werden besonders von Russland und Iran unterstützt. Sie kämpfen für die Wiederherstellung der alten Ordnung und für ein säkulares und staatssozialistisches Syrien.

Der «Islamische Staat»
Der Kern der Terrorarmee des sogenannten Islamischen Staates (IS) besteht aus multinationalen Söldnern des Dschihad, die einen umfassenden Gottesstaat im Irak und der Levante errichten wollen. Viele dieser Kämpfer kommen aus der Armee des einstigen Diktators Saddam Hussein, andere wurden von westlichen Staaten als Kämpfer gegen andere Terrorgruppen ausgebildet.
Der IS beherrscht in Syrien Teile des Nordens und beinahe die gesamten dünn besiedelten Wüstengebiete des Ostens, inklusive zahlreicher Öl- und Gasfelder. Umgeben ist dieser harte Kern von Stammesmilizen, deren Angehörige erstmals im Leben ein Einkommen beziehen oder sogar zum Kampf für das Terrorkalifat gezwungen werden, indem man in ihren Stämmen Menschen als Geiseln nahm. Auch kämpfen Menschen aus verschiedenen Ländern aus Überzeugung für den IS, auch aus westlichen Staaten. Hier tun sich gerade Konvertiten mit einem völlig abstrusen Islamverständnis negativ hervor.
Der IS wird besonders von Privatleuten aus Saudi-Arabien und den Golfstaaten und teilweise von der Türkei unterstützt. Die Türkei sähe sich gern als Gewahrsamsmacht der Sunniten in Syrien und im gesamten Nahen Osten, wobei ihnen das Assad-Regime im Wege steht. Sie sieht im IS keine Gefahr, sondern eher den «nützlichen Idioten».

Hier der Link zu einer Karte mit der Darstellung der aktuellen Situation:
http://ic.pics.livejournal.com/tarassirko/72229688/97012/97012_original.jpg

Das erschreckende Fazit des fast fünfjährigen Krieges, der sich längst vom Bürgerkrieg zum Glaubenskrieg gewandelt hat, in dem jeder gegen jeden kämpft, umfasst eine Viertelmillion Tote, Hunderttausende Verletzte und mehrere Millionen Flüchtlinge, die sich hauptsächlich im Libanon, in Jordanien und der Türkei aufhalten, nun aber in Massen nach Europa strömen. Hinsichtlich der deutschen Jubelkultur über eintreffende Geflüchtete schmerzt mich hier sehr die Gedankenlosigkeit gegenüber den in der Kriegsregion Verbliebenen. Diese sind nahezu vollständig aus dem politischen und medialen Fokus geraten. Außerdem ist für mich persönlich sehr verwirrend anzuschauen, wie junge und kräftige syrische Männer ihre Kinder über europäische Grenzzäune werfen, um auf diese Weise den Durchlass zu erzwingen, während man andererseits zierliche Kurdinnen für ihre Heimat, ihre Familien und ihr Recht auf Selbstbestimmung und eine bessere Zukunft kämpfen sieht. Stellt man diese Bilder gegenüber, wirkt etwas verkehrt daran.

Der «Arabische Frühling» ist gescheitert. Die Zustände in den beteiligten Ländern sind nicht besser als zuvor, teils sogar übler. In Algerien, Marokko und Mauretanien wird man froh sein, gar nicht erst mitgemacht zu haben. Während die früheren Machthaber die diversen Konflikte unterdrücken konnten, sind sie nun offen ausgebrochen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Regent einer Region ist, wer über genügend Bewaffnete verfügt. Auch die Einflüsse von außen und das überhastete Aufnötigen von Strukturen, die in anderen Teilen der Welt über Jahrhunderte wachsen und gedeihen mussten, haben ihr Übriges beigetragen, um den «Arabischen Winter» zu erzeugen.

Doch ganz gleich, von welcher Seite aus man die schreckliche Lage betrachtet, man kommt um eine Einsicht nicht herum: Assad und seine Truppen stehen auf beinahe verlorenem Posten gegen den islamistischen Terror und den globalen Dschihad. Wie verzweifelt muss die Lage der Minderheiten sein, wenn der syrisch-orthodoxe Bischof Maurice Amsih zum Gebet für Baschar al-Assad aufruft und das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche bittet, im Rahmen dessen USA-Besuchs Präsident Obama aufzufordern, die «Aggressionen der USA gegen Syrien» endlich zu stoppen!

Betet also, liebe Leserinnen und Leser, wenn auch nicht für Assad, so doch wenigstens für Syrien und die Syrer.

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