Montag, 17. November 2014

Eine Soldatengeschichte

Pervomaisk, 16. November 2014

Im Norden der Stadt Pervomaisk in der Region Lugansk hat in der Ruine eines zerstörten Hauses die Miliz einen Beobachtungsposten eingerichtet. Der Kellerraum ist nur schwach beleuchtet und lässt die anwesenden drei Männer wie fremdartige Schattenwesen wirken. Durch das schmale Fenster dringt der beißende Geruch verbrannter Erde ein. Die gesamte Umgebung ist zerstört. Menschen können zwischen den Trümmern nicht mehr leben. Auch während der letzten Tage gab es häufig Artillerieangriffe. Heute ist es im Abschnitt ruhiger. Die Schüsse fallen in der Ferne, die Gefahr ist in dieser Nacht weit weg.

Nikolai sitzt am Fenster und starrt in die Dunkelheit. Er trägt die typische Pelzmütze der Kosaken, inklusive der Kokarde aus Zarenzeiten. Der orthodoxe Gläubige ist jeden Sonntag, an dem der Dienst es zugelassen hat, mit seiner Familie in die Kirche gegangen - bis sie durch ukrainisches Artilleriefeuer zerstört wurde. An besonderen Tagen hat er die traditionelle, dunkelblaue Uniform mit den silbrigen Schulterklappen getragen. Der Donkosak stammt aus einer kleinen Siedlung in der Gegend. Er kennt den Krieg und hasst ihn. Früher ist er Soldat gewesen und hat gegen tschetschenische Islamisten gekämpft. Seine Ansichten sind traditionell, wie die der meisten Kosaken. Er kämpft für seine Heimat, auf die er vor seinem Ataman einen Eid geleistet hat. Heimat ist für ihn mehr als eine hohle Phrase. Es ist der Ort, den die Vorfahren urbar machten und gegen jeden Eindringling verteidigten. Seine Familie, bestehend aus Ehefrau Aljona, Tochter Alina und Sohn Aleksander, ist bei Verwandten in der Region Rostov am Don untergekommen. Dort ist sie in Sicherheit. Nikolai ist deswegen beruhigt, doch er hat gleichzeitig auch Angst um die Familie seines Freundes Igor, dessen Angehörige sich im umkämpften Lugansk befinden. Seine kräftige Gestalt strafft sich. Er umklammert sein Sturmgewehr fester und steckt sich eine zerknitterte Zigarette zwischen die aufgesprungenen Lippen. Igor reicht ihm schweigend Feuer.

Igor raucht ebenfalls. Er hat seinen dicken Schal locker um die Ohren gewickelt. Eine Mütze trägt er nicht. Wegen des Verbandes an der Stirn. Er ist verwundet worden. Aber er hat einen harten Schädel. Igor ist Bergmann und somit an harte Arbeit und Schmerzen gewöhnt. Sein ganzes Leben lang arbeitet er bereits in einem Bergwerk und hat Kohle für die Kraftwerke und Industrieanlagen gefördert. Er liebt seinen Beruf und würde ihn gern wieder ausüben, sobald Frieden ist. Im Gegensatz zu seinem Freund Nikolai hat Igor keine politischen Ansichten. Er ist ein bescheidener Familienmensch, mag schwere Technik und die Schönheiten der Natur. Igor ist verheiratet und hatte zwei Kinder. Sein Sohn Michail hat ebenfalls in der Miliz gekämpft und ist an den Folgen einer schweren Verwundung gestorben. An seiner Stelle führt der Vater den Kampf fort, den er für gut und gerecht hält. Tatjana, Igors Frau, versteht ihren Mann, aber sie sagt auch: »Warum ausgerechnet mein Mann, ich habe doch schon meinen Sohn hingegeben!« Sie weint jede Nacht. Tochter Ewgeniya ist noch zu klein, um zu verstehen. Wenn Tatjana nicht weint, strickt sie dicke Socken. Igors Rucksack ist prall gefüllt damit. Auch seine beiden Freunde tragen längst Tatjanas liebevoll verzierte, kleine Kunstwerke. Igor zieht an seiner Zigarette und nickt aufmunternd dem jungen Kameraden Juri zu.

Juri lächelt einen Moment lang. Der junge Bursche ist ein Freiwilliger aus Russland. Er kommt aus der südwestrussischen Stadt Krasnodar. Aufgewachsen ist er zuerst beim Großvater, einem hochgeachteten Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges mit zahllosen Auszeichnungen, nach dessen Tod er in ein Waisenhaus kam. Lange Zeit vermisste er eine Familie und vor einigen Jahren schloss Juri sich auf der Suche nach Gemeinschaft der Kommunistischen Partei an. Er ist kein Ideologe. Allein die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Geborgenheit treibt ihn an. Nun haben Igor und Nikolai sich seiner angenommen. Für Igor ist Juri beinahe wie der leibliche Sohn, den er verloren hat. Er würde sein Leben für ihn geben. Der junge Bursche sieht sich als kleiner Teil von etwas Großem. Etwas Neuem. Aus seiner Sicht müssen Menschen wichtiger sein als Paragrafen. Juri möchte selbst bestimmen, wie er zu leben hat. Die slawische Kultur ist ihm wichtig, auch wenn er Internationalist ist. Er vertraut auf die Worte des Brigadekommandeurs Aleksei Mozgovoy, der deutlich gesagt hat: »Wir sind viele Menschen mit vielen Ansichten. Wir wollen von allen das Beste nehmen und gemeinsam etwas zutiefst Humanes schaffen.«

Eine schmale Gestalt betritt den Unterstand. Es ist Ksenia. Sie ist ebenfalls bei der Miliz, hat heute einen freien Tag und bringt ihren Freunden in einer verbeulten Milchkanne heiße Suppe. Das Mädchen ist bildhübsch und könnte selbst in ihrem viel zu großen Tarnanzug mit jedem Fotomodell konkurrieren. Ihre Ausstrahlung zeugt von großer Lebensfreude. Sie lacht gern und ist auch in diesen schlimmen Zeiten ein Sonnenschein. Und sie mag Nikolai, Igor und Juri. Als vor einigen Wochen eine Granate ihr Haus getroffen hat, haben die drei Männer ihr tatkräftig geholfen, es wieder bewohnbar zu machen, und sie haben ihrem kleinen Brüderchen, um das sie sich seit dem Tod ihrer Eltern kümmert, einige Spielzeuge mitgebracht. Für Juri ist sie längst mehr als eine Kameradin und Freundin, und auch Ksenia empfindet tiefe Zuneigung für den jungen Mann. Vielleicht werden die Beiden eines Tages ein Paar, doch das Mädchen sagt: »Wir müssen zuerst den Krieg überleben.« Juri versteht das.

Bevor Ksenia heimgeht, drückt Juri ihr einen kleinen Strauß vertrockneter Wildblumen in die Hand. Er hat sie draußen zwischen den Trümmern gepflückt und insgeheim gehofft, sie noch heute weitergeben zu können. Ksenia nimmt die kleine Gabe dankbar an und lächelt verlegen. Doch für einen Augenblick ist sie glücklich. Igor und Nikolai schauen sich verschwörerisch grinsend an, der Bergmann zwinkert frohgemut. Bis wieder aus der Ferne die Artillerie grollt. Die hübsche Kämpferin kommt sicher nach Hause. Denn heute ist es relativ ruhig im Abschnitt des Bataillons.

Die Ukrainekrise

Ursachen und Wirkungen

Seit dem Zerfall der Sowjetunion und der Souveränität der Ukraine ist die Bevölkerung in zwei etwa gleich große Anteile gespalten. Lange vor dem Beginn des aktuellen Konfliktes standen sich zwei Interessengruppen gegenüber, die bei Wahlen abwechselnd knapp siegten bzw. unterlagen. Die letzte Wahl vor dem Konflikt gewann 2007 Viktor Janukowitsch gegen seine Konkurrentin Julia Tymoschenko. Somit war Janukowitsch der legitime Präsident der Ukraine, den rund die Hälfte jeweils unterstützte bzw. ablehnte.

Der länger als zwei Jahrzehnte bestehende Streitpunkt zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen bestand - und besteht - in der politisch-geografischen Orientierung der Ukraine. Besonders im Westen des Landes strebte man in Richtung EU und NATO, im Osten und Südosten favorisierte man ein enges Bündnis mit der Russischen Föderation. Diese fragile Situation führte dazu, dass weder ein endgültiges Bündnis mit der Europäischen Union noch mit Russland zustande gebracht wurde. Da keine Orientierung erfolgte und beide Optionen möglich blieben, begehrte keiner der beiden Bevölkerungsteile auf.

Als nunmehr die EU eine Partnerschaft unter Ausschluss eines gleichzeitigen Bündnisses mit Russland anbot und Präsident Janukowitsch dies ablehnte, brach der Konflikt offen aus. Die Verweigerung Janukowitschs löste schließlich die Massenproteste auf dem Maidan aus. Das Ziel der Demonstrationen und Protestaktionen war die Durchsetzung der Zugehörigkeit zum Westen. Schnell kam auch die Forderung nach dem Sturz der legitimen Regierung hinzu.

Faschismus: Ja oder Nein?

Die Massenproteste auf dem Maidan trugen anfangs keinen faschistischen Charakter, sondern waren ein Ausdruck des Willens des pro-westlichen Bevölkerungsanteils. Jedoch ließen die gegen Janukowitsch opponierenden Organisationen und Bewegungen sich von Anfang an auf ein Bündnis mit faschistischen Kräften ein. Dies waren die rechtsextreme Partei Svoboda und der offen faschistische »Rechte Sektor«. Beide Organisationen sind ultranationalistisch, rassistisch, russophob und gewaltbereit. Im Verlauf des Geschehens erlangten diese faschistischen Gruppen zunehmend Dominanz und traten auch bewaffnet in Erscheinung. Die Mehrheit der friedlichen Demonstranten und deren Repräsentanten distanzierten sich mit keinem Wort von den faschistischen Kräften und deren Gewalttaten gegen die Polizei und Andersdenkende.

Die frühere Übergangsregierung oder die gegenwärtige Regierung als faschistisch zu bezeichnen, wäre nicht korrekt. Doch besonders während der Übergangsphase gab es in der Regierung mehrere Mitglieder der Neonazi-Partei Svoboda. Seitens der Regierung der Ukraine wurde dazu übergegangen, den Nazi-Charakter von Svoboda zu bestreiten. Der westliche Mainstream schloss sich kurz darauf an. Übrigens forderte der jüdische Weltkongress ein Verbot von Svoboda.

So ist die Kiewer Regierung zwar nicht selbst faschistisch, aber offen nach ganz weit rechts. Es gibt eine anhaltende Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Nazis. Die westlichen Staaten duldeten dies nicht nur, sondern Politiker trafen sich mit dem Svoboda-Chef zu Beratungen. Während Teile der westlichen Politik und Medien die Verbindungen der ukrainischen Regierung mit Faschisten gänzlich leugnen, benennt Russland die gesamte Kiewer Exekutive pauschal als faschistische Junta.

Der Sturz Janukowitschs

Präsident Janukowitsch geriet mehr und mehr unter Druck. Unter dem Eindruck der Massenproteste der pro-westlichen Bevölkerungsteile sowie der Besetzung von öffentlichen Plätzen und Regierungsgebäuden strebte der Präsident einen Kompromiss an. Als Vermittler fungierten Außenminister von Staaten der EU. Schließlich sollte es Neuwahlen geben, dafür hätten die Demonstranten die besetzten Gebäude räumen müssen. Die Vertreter der Maidan-Aktivisten unterzeichneten die Vereinbarungen, doch die Masse der Protestierenden ließ sich nicht besänftigen. Sie stimmten nunmehr den radikalen Forderungen der Partei Svoboda und des »Rechten Sektors« zu, deren Ziel weiterhin ein Umsturz war. Jede andere Option betrachteten die Nazis als Verrat am Maidan.

Zur selben Zeit kam es zu den Morden durch nicht identifizierte Heckenschützen. Geschossen wurde auf bewaffnete und unbewaffnete Demonstranten, aber auch auf Polizeibeamte. Die Mehrheit der Opfer waren waffenlose Aktivisten. Ohne die Spur eines Beweises unterstellte die Opposition, aber auch der Westen, diese Morde den regierungstreuen Kräften. Nun floh Präsident Janukowitsch nach Russland und verwahrte sich dagegen, die Todesschüsse in Auftrag gegeben zu haben. Die Opposition und der Westen blieben bei ihrer unbewiesenen und nicht einmal ansatzweise untersuchten Behauptung.

Das Schattenparlament

Nach der Flucht Janukowitschs erfolgten seitens des ukrainischen Parlaments eine Anzahl von Beschlüssen, die ohne jede Einschränkung den Forderungen der Maidan-Aktivisten entsprachen. Die legitime Regierung wurde entmachtet, ein Übergangspräsident eingesetzt, ebenso eine Übergangsregierung. Die Macht wurde von der Opposition ohne Legitimität übernommen. Die ukrainische Staatsverfassung lässt die Absetzung eines Präsidenten durch das Parlament nicht zu, sondern kennt nur ein Amtsenthebungsverfahren, dessen Gründe keine Anwendung hätten finden können. Der Westen erkannte die neuen Machthaber dennoch vollumfänglich an. Aus russischer Sicht handelt es sich allerdings um einen Putsch unter Anwendung von Gewalt. Der eigentlich noch immer legitime Präsident rief aus dem Exil zum Widerstand auf.

Fest steht, dass die Beschlüsse des Parlaments einher gingen mit der Gewaltandrohung gegenüber Abgeordneten, die andere Ansichten vertraten oder weiterhin für Janukowitsch eintraten. Die nunmehr in die Oppositionsrolle geratenen Abgeordneten agierten unter der Bedrohung von Leib und Leben. Bezeugt wird dies u.a. durch ein abgehörtes und nicht dementiertes Telefonat der EU-Außenbeauftragten Ashton mit dem lettischen Außenminister Paet, und tatsächlich kam es wiederholt zu gewalttätigen Übergriffen auf pro-russische Politiker.

Zwar mögen das neue Parlament und die neue Regierung formal legitimiert wirken, aber das verfassungsmäßig vorgesehene Amtsenthebungsverfahren wurde nicht durchgeführt. Die Legitimität der neuen Machthaber ist deshalb nach wie vor zweifelhaft, da auch spätere Wahlen der Verfassung widersprachen. Stattdessen wurde zur Legitimierung die bereits erwähnte Ermordung von Menschen durch Heckenschützen genutzt - rechtlich völlig unsauber. Unklar ist vor allem nach wie vor die wahre Identität der Schützen. Es gibt durchaus Hinweise auf die Beteiligung faschistischer Kräfte. Schusskanäle deuten auf das von Svoboda als Hauptquartier genutzte Hotel UKRAINA hin; die Regierungsscharfschützen, denen das Abgeben von Schüssen auf Unbewaffnete verboten war, schienen völlig überrascht von der Anwesenheit weiterer Schützen. Besonders pikant: der für die Untersuchung zuständige damalige Generalstaatsanwalt war ein Mann von Svoboda.

Die Halbinsel Krim

Von Anfang an gab es neben dem Euromaidan, auf dem die pro-westlichen Kräfte ihr Hauptquartier hatten, den nur wenige Häuserblocks entfernten Antimaidan, den die pro-russischen Aktivisten besetzten. Innerhalb der Ost- und Südukraine gab es ähnliche Aktionen wie in der Landeshauptstadt. Plätze und Gebäude wurden besetzt. Auf der Krim, aber auch im Donbass, kam es zur Übernahme der Kontrolle durch pro-russische Kräfte. Bewaffnete Formationen traten in Erscheinung. Der Westen sah in den Bewaffneten auf der Krim russische Elitesoldaten, seitens des Kreml wurde dies bestritten. Vermutlich agierten Soldaten der russischen Garnison in Sevastopol Seite an Seite mit Verstärkungen, übergelaufenen ukrainischen Soldaten, Polizisten und paramilitärischen Kräften.

Es kann davon ausgegangen werden, dass Russland seine Anhänger auf der Krim unterstützte. Ebenso sicher ist die Ansicht, dass die Bevölkerung auf der Halbinsel in der überwältigenden Mehrheit durch die Bewaffneten sich eher geschützt als bedroht sah. Die Masse der Krimbewohner akzeptierte die neue Kiewer Regierung nicht, zumal sich die Krim seit mehr als 200 Jahren als russisches Territorium betrachtet. Jedenfalls waren dort die meisten Menschen nicht bereit, die neue Kiewer Regierung anzuerkennen. Natürlich kam Russland dies entgegen - schon rein geostrategisch.

Daher wurde die Krim nach einem Referendum umgehend in den Verbund der Russischen Föderation aufgenommen. Die westlichen Staaten argumentieren mit einem Bruch des Völkerrechts. Russland beruft sich dagegen auf einen Präzedenzfall: den Kosovo. Strittig ist die Art und Weise des Referendums auf der Krim, gezeigt hat sich hingegen deutlich der Mehrheitswille der Bevölkerung auf der Halbinsel.

Seither werfen die Staaten des Westens den Russen - bzw. Putin persönlich - eine Annektierung der Krim vor. Und aggressives Expansionsstreben. Dabei verleugnet der Westen eigene
machtstrategische und geopolitische Interessen. Wie bereits vor dem Irakkrieg, der Hunderttausende tötete und das Land bis heute ins Chaos gestürzt hat, berief man sich auf Menschenrechte, Demokratie und Freiheit. Die Masse der Menschen auf der Krim fühlt sich paradoxerweise heute freier als während der vergangenen zwei Jahrzehnte.

Die westliche Welt verfolgt seit langer Zeit das Ziel, die Ukraine in die EU und die NATO einzubinden. In dieser Hinsicht zieht man mit Russland am gleichen Strang - nur eben am anderen Ende. Der Umsturz in der Ukraine kam dem Westen jedenfalls sehr gelegen, also wurde er fleißig unterstützt.

Zurück ins Kernland

Währenddessen kam es in der Ost- und Südukraine in zahlreichen Städten zu Protesten gegen die neue Regierung in Kiew. Wie zuvor in der Hauptstadt wurden Verwaltungsgebäude und Polizeistationen besetzt. Auch hier beteiligten sich einhellig nebeneinander Bewaffnete und Unbewaffnete. Anders als auf dem Maidan, wo angeblich die Menschen von dritten Mächten völlig unbeeinflusst agierten, war im historischen Neurussland sofort die Rede von der Koordinierung der Proteste durch den Kreml. Erneut wurde nach dem »Vorbild Krim« der angebliche russische Expansionsdrang bemüht. Zu dieser Zeit entstand das Bild vom pro-russischen »Terroristen, Banditen und Gewalttäter«.

Doch nicht genug. Nunmehr kündigte die Kiewer Regierung an, die Proteste mittels militärischer Gewalt zu unterdrücken. Russland forderte die westlichen Staaten auf, ein bewaffnetes Vorgehen gegen die Protestierenden zu verhindern, während der Westen Russland aufforderte, den Protesten die Unterstützung zu entziehen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird die westliche Position einseitig. Der Verweigerungshaltung der Menschen im Osten und Süden der Ukraine gegenüber der neuen Kiewer Regierung wird mit absolutem Unverständnis begegnet. Mehr noch: den Protestierenden wird jedes legitime Interesse abgesprochen, ihnen wird Manipulation durch den Kreml unterstellt. Ihnen wird sogar abgesprochen, Ukrainer zu sein; sie werden zur Fünften Kolonne des »Aggressors Russland« herabgewürdigt.

Aus Protest wird Krieg

Die im Osten und Südosten der Ukraine agierenden Kräfte in Bewaffnete und Unbewaffnete zu unterscheiden, ist unsinnig. In Kiew traf man diese Unterscheidung nicht. Vom ersten Tag an sind Milizen und Zivilisten eng miteinander verbunden. Ein erheblicher Anteil der Bevölkerung in den vom Konflikt betroffenen Regionen stehen den bewaffneten Kämpfern positiv gegenüber. Dies haben die Wahlen in Lugansk und Donezk deutlich gezeigt. Die militärischen Maßnahmen gegen die beiden Oblasts sieht dort kaum jemand als Kampf gegen ausländische Aggressoren oder Terroristen und Banditen. Im Gegenteil, die Menschen besonders im Donbass sehen ihre Haltungen und Ansichten mit Waffengewalt durch die Regierungstruppen unterdrückt. Zahllose Zivilisten unterstützen die Milizen. Sie sehen sich von ihnen geschützt. Die Feldkommandeure vertreten die politische Linie der Bevölkerungsmehrheit.

Gewiss ist der Kreml unterstützend tätig. Allerdings hat diese Unterstützung nichts mit den unterstellten russischen Aggressionsgelüsten zu tun. Vielmehr stellen sich sowohl Russland als auch der Westen auf eine der beiden Seiten der Bevölkerungsanteile, von denen einer nach Westen und einer nach Osten strebt. Und nicht nur Russland verschweigt seine Beteiligung, sondern auch die USA und die EU. Die Besuche der EU-Beauftragten der USA, Victoria Nuland, und des CIA-Chefs waren gewiss nicht rein protokollarischer Natur.

Faschisten reloaded

Nun, inmitten des Bürgerkriegs, muss die Ukraine auf ost- und südukrainische Militärverbände verzichten. Sie sind nicht verfügbar. Mobilmachungen brachten kaum mehr als ein Drittel der gewünschten Anzahl an Rekruten ein. Die Zahl der Deserteure und Wehrdienstverweigerer steigt stetig an. Da kommen der Kiewer Regierung die Faschisten und Ultranationalen gerade recht. Neben jeder regulären Einheit kämpft eine Formation der Nationalgarde. Deren Befehlshaber Andriy Parubij war ein Mitbegründer der rechtsextremen Sozial-Nationalen Partei, aus der Svoboda hervorging. Auf dem Maidan agierte Parubij eng neben Dmytro Jarosch, dem Führer des »Rechten Sektors«. Viele der angeworbenen Kämpfer der Nationalgarde sind Rechtsextreme. Damit haben alle Albträume der Menschen im Osten und Süden der Ukraine Gestalt angenommen.

Diese Extremisten der Nationalgarde, einer Regierungsinstitution, werden als Okkupanten wahrgenommen. Wie solche gebärden sie sich auch. Und so stemmten sich in Slawjansk Zivilisten gegen anrückende Panzerfahrzeuge und versuchten sie gen Westen wegzuschieben. Welche Verzweifelung!

Alles weitere mag sich jede Leserin und jeder Leser selbst denken. In den östlichen Gefilden des europäischen Kontinents tobt kein Bruderkrieg, sondern eine blutige Auseinandersetzung zweier kulturell verschiedener Bevölkerungsgruppen, deren allzeit brüchiges gegenseitiges Einvernehmen nunmehr komplett zerstört wurde, wobei dritte Mächte eine nicht unerhebliche Rolle spielten.

Dieser Konflikt ist eingebettet von einem heranwachsenden neuen »Kalten Krieg« zwischen der westlichen Welt und dem stets unverstanden gebliebenen Nachbarn im Osten. Eine militärische Lösung gibt es nicht. Der Krieg der Kulturen und Ansichten kann nur durch einen Frieden beendet werden, der gerecht ist und der beiden Seiten einen Raum zum Leben lässt. Gemeinsam in einem Land wird dies nicht mehr möglich sein. Es bleiben die Möglichkeit der Föderation oder die Option der Teilung.

Die Ukrainekrise

Die Spaltung der Ukraine in einen pro-westlichen und einen pro-russischen Teil ist kein Novum. Der Konflikt ist so alt wie das Land selbst. Doch nun ist der Konflikt eskaliert, wofür nicht nur die Beteiligten vor Ort verantwortlich sind, sondern auch die jeweiligen politischen Unterstützer und Scharfmacher im Ausland.

Die Anfänge, der Verlauf und die Hintergründe: HIER!

Mehr zum Thema:
Wovon Kinder im Donbass träumen
Eine Soldatengeschichte

Reihe ›Gesichter des Donbass‹

Bisher gibt es folgende Kurzporträts:

Veselina Tsherdanzeva
Ekaterina Abbasova
Olga Terjaeva
Arsenij Pavlov
Oleg Michailov
»Teschtscha«
Michail Tolstych NEU
Oksana Volchonok NEU

Weitere werden folgen.

1. Maulender Autor
2. Kasinogespräche
3. Zeitgeschehen
4. Nazis gegen rechts
Akte Bundeswehr
Akte Unsinn
Akte Weltordnung
Elsa fragt den Soldaten
Russischer Frühling
Sirkos Staniza
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren