Mittwoch, 10. Dezember 2014

Noch eine Geschichte

Alchevsk, 8. Dezember 2014

Boris friert entsetzlich, als er das warme Auto verlässt, um die letzten Schritte zum Hauptquartier der Brigade Prizrak zurückzulegen. Seit Wochen plagt der Journalist einer systemkritischen Zeitschrift sich mit einer verschleppten Erkältung herum, die er mittlerweile mit einer Mischung aus Tee und Cognac zu bekämpfen versucht.

Als er das wuchtige Gebäude, Kern eines stillgelegten Betriebsgeländes, erreicht, kommen zeitgleich zwei LKW mit Kennzeichen aus der Region Rostov am Don an. Eine Reihe Uniformierter beginnt sofort mit der Entladung. Boris sieht Säcke mit Mehl und Kartoffeln, Kartons mit Konserven, dicke Winterkleidung. Eine Frau mittleren Alters, stämmig aber nicht unattraktiv, koordiniert die Entladung. Nebenbei unterhält sie sich mit einer anderen Frau. Sie ist älter und hält die Hand ihres Enkels. Nach einem kurzen Wortwechsel läuft die Verwalterin ins Innere des Gebäudes und kommt mit zwei prall gefüllten Plastiktüten zurück. Wieder sprechen die beiden Frauen miteinander, die Milizionärin beginnt plötzlich zu weinen, begibt sich erneut in das Gebäude und bringt eine weitere Tüte mit. Die Frauen umarmen sich zum Abschied.

»Bekommen Sie denn keinen Ärger?«, will Boris besorgt wissen, doch die kräftige Verwalterin schüttelt verlegen lächelnd den Kopf. Der Brigadekommandeur kümmert sich um die Zivilbevölkerung, erklärt sie beinahe freudig. Die Brigade, so erzählt sie nicht ohne Stolz dem Journalisten, unterstützt vier Suppenküchen sowie mehrere Schulen und Heime.

Boris nickt verstehend und lässt sich den Weg zum Büro des Kommandeurs erklären. Aleksei Mozgovoy ist unterwegs. Ein junger Adjutant führt den Journalisten in das Büro des ebenfalls abwesenden Stabschefs und bietet ihm einen stark gezuckerten Tee an. Boris lehnt dankend ab und hält dem schmächtigen Burschen seine flache Flasche mit seinem ›persönlichen Erkältungsmedikament‹ hin.

Der Offizier hebt abwehrend die Hände. Im Hauptquartier herrscht striktes Alkoholverbot. Die ›Ukrops‹ (russ. für Dill, Spottname für die ukrainischen Truppen) haben Probleme mit Alkohol und Drogen, meint der Adjutant geringschätzig. »Der Kommandeur möchte, dass wir einen klaren Kopf behalten. Nur so können wir siegen.«

Im Zimmer des Stabschefs sieht Boris ein Foto des bayerischen Schlosses Neuschwanstein mit verschneiten Dächern. ›Hauptquartier Winter 2015‹ hat jemand mit einem dicken Faserschreiber darauf vermerkt. Ob er das Gebäude kenne, will Boris von dem jungen Offizier wissen. Dieser schüttelt den Kopf. Das Foto hat dem Stabschef gefallen, antwortet er. »Es hat keinen tieferen Sinn. Wir kämpfen für Novorossia, nicht um die Weltherrschaft.« Er lacht knabenhaft. Im Korridor hallen feste Schritte.

»Der KomBrig (russ. Kürzel für Brigadekommandeur) ist da«, behauptet der Adjutant und führt den Journalisten zur Zimmertür. »Er wird Sie sofort empfangen.« Boris nickt erleichtert. Er hat heute noch einen weiteren Termin wahrzunehmen.

Aleksei Mozgovoy ist kräftig und mittelgroß. Er trägt eine Uniform mit dickem Pelzkragen, dazu eine auffällige Pelzmütze mit der Kokarde der Donkosaken. Bewaffnet ist er nur mit einer altertümlichen Pistole des Typs Mauser C96. Sein Blick ist streng und beherrscht, Boris verspürt in der Gegenwart des charismatischen Milizkommandeurs ein leichtes Unbehagen. Er wird in das Arbeitszimmer gebeten.

Das Büro des Kommandeurs wirkt aufgeräumt. Der Schreibtisch ist voller Unterlagen und anderer Gegenstände, aber ordentlich strukturiert. Neben einem zugeklappten Notebook liegen in Reih und Glied mehrere Mobiltelefone bereit. Daneben Kleingebäck und ein halbvoller Aschenbecher. An den Wänden hängen zwei Flaggen: die Kriegsfahne Neurusslands und eine weitere, die auf den ersten Blick wie eine Piratenflagge aussieht. »Ein Geschenk der russisch-orthodoxen Armee«, sagt Mozgovoy sachlich. Boris liest die Inschrift um den Totenschädel: ER wird kommen und richten über die Lebenden und die Toten. Amen.

Sie nehmen platz, der junge Offizier, der sich bisher um den Journalisten gekümmert hat, bringt heißen Tee. »Sie haben eine Viertelstunde«, sagt Mozgovoy nach einem Blick auf die Uhr und nimmt die Pelzmütze ab. Sein Kopf ist kahlrasiert, der Bart zeigt erste Silberfäden. Der Kommandeur ist noch keine vierzig.

Mozgovoys Stimme hat einen melodischen Klang. Er hat vor dem Krieg als Solist in einem Chor gesungen, weiß Boris. Ruhig beantwortet er die Fragen des Journalisten. Auch die unbequemen. Aus seinen Überzeugungen macht er keinen Hehl. Der Blick des Kommandeurs bleibt während der ganzen Zeit streng und sachlich. Doch wenn er von seinen Visionen von Neurussland spricht, strahlen seine Augen. »Ich bin für eine Volksdemokratie«, erläutert der Milizenführer. »Unsere Feinde sind nicht die Ukrainer, sondern die Faschisten und die Feudalherren, die sich das gesamte Land untertan gemacht haben und nach Belieben ausbeuten.«

Erst zum Abschied lächelt Mozgovoy für einen Moment. Übergangslos wirkt er auf Boris nun freundlich und sympathisch. Unter anderen Umständen wäre der Brigadekommandeur gewiss ein umgänglicher Mann, vermutet der Journalist beim Verlassen des Gebäudes mit einigem Bedauern. Gerne würde er ihn nach dem Krieg erneut interviewen.

Auf dem Weg zu seinem Auto begegnen Boris zwei junge Frauen. Mitten im Krieg sind sie modisch gekleidet in dicke Winterjacken und bunte Schals, blickdichte Strumpfhosen und hohe Stiefel. An der Jacke der einen flattert ein Stoffbändchen in den Farben des Georgskreuzes: schwarz und orange - symbolisch für Pulverrauch und Feuer. Boris spricht sie an und erfährt, dass die beiden jungen Damen Lehrerinnen an einer Schule gleich um die Ecke sind. Das Notstromaggregat ist defekt und die Miliz soll helfen. Wir bekommen bestimmt ein neues Gerät, meint die eine. Aleksei Borisovich lässt uns nicht ohne Strom, ist die andere sich sicher und fügt hinzu: »Das ist immer so«.

Sie trennen sich. Die Lehrerinnen setzen ihren Weg zum Hauptquartier fort, der Journalist steigt in sein abgekühltes Auto. Ein Stückweit sind seine Ansichten erschüttert. Der seinerseits erwartete ›Warlord‹ hat sich ihm als nachdenklicher und charismatischer Visionär präsentiert, dem die Menschen am Herzen liegen. »Meine Nationalität ist Mensch«, hat während des Interviews der in der Region Lugansk geborene Kommandeur beiläufig angemerkt.

Auf der langen Fahrt zum nächsten Termin breiten sich in Boris einige Zweifel aus. Zaghaft, aber sie sind nicht einfach wegzuschieben. Er muss an die Milizionärin denken, die weinend einer älteren Frau und ihrem Enkelkind geholfen hat, an die beiden Lehrerinnen, für die es hinsichtlich der Unterstützung durch die Miliz keinerlei Zweifel gab.

Was immer Boris in seiner Zeitschrift berichten wird, kann diesmal nur ein selbst erlebter Moment einer Wirklichkeit sein, die im Strudel der Propaganda und gegenseitigen Schuldzuweisungen ein Schattendasein fristet. Angesichts der Überzeugtheit der Menschen, denen er heute begegnet ist, fühlt er sich mit seinen Zweifeln plötzlich sehr klein. Aber insgeheim weiß er, dass um ihn herum gerade Großes geschieht, und als er an einer roten Ampel anhalten muss, beschließt er spontan, seine eigene Rolle im Geschehen zu überdenken. Denn hin und her gerissen zwischen den westlichen Werten und der slawischen Kultur schlummert auch tief in seinem Innern die russische Seele.

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