Samstag, 6. September 2014

Ein Lesepröbchen

Als Medikus des Klosters war Bruder Severin nicht nur für die Lebenden im Kloster und in der Stadt verantwortlich, sondern auch für die Toten, von denen es gegenwärtig zu viele gab. Sie lagen entstellt und verstümmelt in einer endlos erscheinenden Reihe in der Dunkelheit der Krypta unter der Klosterkirche aufgebahrt. Severins Aufgabe bestand nun darin, in bestimmten Zeitabständen nach ihnen zu sehen. So hatte der Prior es verlangt, und in seiner Gründlichkeit folgte der alternde Mönch präzise dieser Order.

Es war der dritte Tag überschritten, an dem die Toten hier lagen. Nach christlichem Gebot hätte man sie zur heutigen Mittagsstunde bestatten müssen. Doch warum auch immer, der Prior hatte es nachdrücklich verboten. Severin vermutete, es war wegen der Ausländer unter ihnen, die zum Teil Muslime oder sogar Heiden waren.

Dem Medikus gefiel es nicht. Stets hatte er die Gesetze der Christenheit befolgt. Was man nun von ihm verlangte, grenzte aus seiner Sicht an Häresie. Als gelehrter Mann der Wissenschaften empfand er eine tiefe Ehrfurcht vor dem Tod und dessen Opfern, daher konnte er nicht verstehen, was man diesen armen Seelen auf dem kalten Grund unterhalb des Kirchenschiffes antat. Er schämte sich für sein eigenes Tun und war schon fast einer bitteren Verzweiflung nahe. Wie um sich selbst betrügen zu müssen, ließ er einen jungen Mönch, seinen Adlatus, und einen Novizen den Toten Gesellschaft leisten. Auf das Peinlichste überwachte er seine eigene Anordnung, also stieg er zu jedem Glockenschlag einer vollen Stunde selbst in die kalte Gruft hinab.

So auch um Mitternacht, dem flüchtigen Moment, der einen Tag vom nächsten trennte.

Die Stufen waren kalt wie der Tag und die Nacht selbst. Ohne es zu wollen oder gar zu verstehen, flößte ihm sein Weg, den er in den vergangenen Tagen sehr häufig gehen musste, urplötzliche Furcht ein. Da war unvermittelt eine innere Stimme, die ihn warnte: »Hüte dich, Severin, diese Stunde gehört nicht den Lebenden!«

Mühsam, unter Aufbietung all seiner Kräfte, zwang er sich die Stufen weiter hinunter zu steigen, geradewegs hinein in diesen langen und schmalen Raum, der schrecklich nach Verwesung roch. Die Angst, die er verspürte, wurde mit jedem Schritt größer. Am Ende der Stiege nahm sie ein beinahe unerträgliches Maß an. Trotzdem setzte er mechanisch weiter den einen Fuß vor den anderen und näherte sich Stufe um Stufe dem finsteren Ort des Todes. Schon trat er durch die Pforte, die Treppe und Gruft voneinander trennte.

Er schrie.

Laut und voller Todesangst. Denn was sich vor seinen angsterfüllt weit aufgerissenen Augen abspielte, war gegen jede Vernunft, gegen jeden menschlichen Verstand. Er taumelte ein paar Schritte zurück, bis die Wand ihn aufhielt. Der Rücken des Bruders presste sich an den harten, kalten Stein neben der Tür zur Stiege. Er begann am ganzen Körper zu zittern, seine Lippen bebten und die Knie wurden ihm weich, so dass sie bald nachzugeben drohten.

Denn er sah, wie einer der Toten sich aufrichtete. Es war der Letzte in der Reihe, und sein Körper brachte sich gespenstisch langsam in eine sitzende Position. Das grässliche Schauspiel wiederholte sich noch fünfzehnmal. Wie umstürzende Dominosteine, die sich in umgekehrter widernatürlicher Richtung bewegten, erhoben sich die zerfetzten Körper der Toten, als wäre noch Leben in ihnen.

War es ein Wunder?, schrie die innere Stimme in Severin, der seine entsetzt geweiteten Augen nicht abwenden konnte, oder war es Satans Werk? Der Mönch sah die toten Bogenschützen zu neuem Leben erwachen und sich von irgendeiner Macht gelenkt von ihren Lagern erheben. Langsam, sehr langsam nahmen sie ihre Habseligkeiten, ihre Schwerter, Armbruste und Pfeile an sich und traten an zu einer Prozession unheiligen Daseins.

Sie wandten sich Severin zu, der jetzt am Ende seines Verstandes angekommen war. Doch nicht er war ihr Ziel, nein, sie bewegten sich in stummem Aufzug auf die Tür zur Treppe zu. Sie sahen ihn nicht einmal an, als sie einer nach dem anderen an ihm vorbeigingen.

Der Mönch nahm all seine letzte Kraft zusammen und schrie voller Verzweiflung: »Nein, es kann nicht sein. Ihr lebt nicht mehr. Seht euch doch an. Ihr seid tot!«

Sie beachteten ihn nicht. Wortlos gingen sie an ihm vorbei. Nur der letzte Kriegsmann, er war sehr jung, fast noch ein Knabe, blieb dicht neben ihm stehen und sah ihn aus sehr lebendigen Augen an. Seine Worte trieben Severin fast in eine rettende Ohnmacht, die ihn dennoch nicht befiel. In dieser Sekunde betrachtete er es als verweigerte Gnade.

»Leben ist nicht mehr Leben«, raunte der Jüngling lächelnd, »so wie Tod nicht mehr Tod ist. Nichts ist mehr so, wie es scheint.« Der junge Mann sah einen kurzen Moment in die dem Wahnsinn nahen Augen des Geistlichen, dann wandte er sich ab und folgte langsam seinen Gefährten.

Severin sank in die Knie und rief mit hoher Stimme: »Die Offenbarung des Johannes. Die letzten sieben Tage sind heran gekommen.« Ehrfürchtig und fast lautlos flüsterte er die Worte aus dem letzten Buch des Neuen Testaments, die da lauteten:

»Und Menschen aus allen Völkern und Stämmen und Sprachen und Nationen sehen ihre Leichname drei Tage und einen halben, dulden aber nicht, dass ihre Leichname in ein Grab gelegt werden. Und nach drei Tagen und einem halben fuhr in sie der Geist des Lebens von Gott und eine große Furcht befiel die, die sie sahen.«

Aus DER SILBERNE DRACHE
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