Samstag, 4. April 2015

Das Hügelgrab

Ich stehe vor einer Anzahl steinerner Treppenstufen. Zu meiner Rechten sind sie gesäumt von vier kolossalen Plastiken. Ganz oben auf dem Hügel erhebt sich eine riesige Stele, davor die Statue eines Soldaten, der siegreich die Arme hebt und in einer Hand eine Maschinenpistole hält. Um mich herum bewegen sich Hunderte Menschen in reger Geschäftigkeit. Schwatzend, scherzend, aber vor allem auch andächtig. Wir sprechen verschiedene Sprachen, doch alle verfolgen wir das gleiche Ansinnen: den Hügel zu erklimmen und der im Kampf gegen Hitlerdeutschland gefallenen Soldaten der Roten Armee zu gedenken.

Es ist ein warmer Tag im Mai. Ein leiser Wind lässt das schmale Bändchen in schwarz und orange am Revers meines Sakkos flattern. Ein junges Mädchen hat es mir angeheftet und mir dabei ein strahlendes Lächeln geschenkt. Es ist ein sehr angenehmes Gefühl, gemeinsam mit all den anderen Menschen hier die einzelnen Stufen hinter sich zu bringen, Seite an Seite, in dichtem Gedränge. Miteinander betreten wir einen beinahe heiligen Ort. Einst wurde hier Geschichte geschrieben. Die strategisch wichtige Höhe bei Snezhnoe im Donbass konnte während des II. Weltkriegs erst nach langen und blutigen Kämpfen von der Roten Armee eingenommen werden. Ihr Name: Saur-Mogila.

Der Schleier fällt. Innerhalb eines Sekundenbruchteils verwandeln sich die von der Erinnerung gezeichneten Bilder des Ehrenmals von einst in das geschundene Antlitz der Gegenwart des Donbass. Statt der würdevollen Stele präsentiert sich mir eine wüste Trümmerstätte. Mit ihren unsichtbaren toten Augen starrt sie mir schweigend entgegen. Nicht anklagend, aber mahnend.

Erst vor wenigen Monaten hatte es wieder Kämpfe um Saur-Mogila gegeben. Diesmal kämpfte Bruder gegen Bruder. Zuerst war die Anhöhe von pro-russischen Kämpfern besetzt worden, nach schweren Bombardements fiel sie an die Gegenseite und danach stürmte sie das Donezker Milizbataillon ›Oplot‹ (Bollwerk) unter Major Aleksandr Zaharchenko, dem heutigen Ministerpräsidenten der nicht anerkannten Donezker Volksrepublik. Die gefallenen Kämpfer des Bataillons wurden auf der historisch bedeutsamen Anhöhe beigesetzt.

Die Sonne verschwindet hinter düsteren Regenwolken, der Wind wird heftiger und kühler. Er droht in einen Sturm umzuschlagen. Da ist mir, als höre ich die Stimme des ukrainischen Präsidenten Poroschenko, die da kalt und zornig sagt: »Unsere Kinder werden in Schulen und Kindergärten gehen, während ihre sich in Kellerlöchern verkriechen müssen!«

Auf der Anhöhe nahe der Stadt Snezhnoe würde niemand einen Schlupfwinkel finden, in dem man sich verkriechen könnte. Ich sehe hier keine Möglichkeit des Schutzes. Nur Gräber. Dieses einstmals besinnliche und lebendige Stückchen Boden wirkt öde und tot.

Und dennoch! Auf den sorgsam gepflegten Gräbern der neurussischen Kämpfer auf der Anhöhe blüht auch Leben. Frische Blumen glänzen im noch zaghaften Licht der Frühlingssonne, niedergelegt von jenen Menschen, die den alten wie neuen Helden der Geschichte gleichermaßen zugetan sind. Saur-Mogila war und ist eine Stätte der Tapferkeit und der soldatischen Ehre. Sie sollte nicht zum Mahnmal der Schande des politischen Westens werden.

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Saur-Mogila - frühere Gesamtansicht

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Saur-Mogila - Detail einer Plastik

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Saur-Mogila - heutige Trümmerstätte

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Kämpfer von ›Oplot‹ an den Gräbern ihrer Kameraden

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Kämpfer von ›Oplot‹ und ihr Kommandeur Zaharchenko
(vordere Reihe, 3.v.l.)

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